Bataille schrieb mitten aus seinem Erleben.

In Peter Wiechens Buch über Bataille las ich, dass Sartre im Hinblick auf Bataille u. a. kritisierte, dass er Theorien mit seinen privaten Erfahrungen verknüpfe. Ich habe das noch nicht nachgeprüft. Doch soweit ich mich an Sartres Texte noch aus meiner Jahrzehnte zurückliegenden existentialistischen Zeit erinnere – damals mit schwarzem Rollkragenpullover, Kaffee und Zigaretten und langen Gespraechen in einem Stuttgarter Café –, koennte dies zu seinem Denken passen. Es scheint da ueberhaupt einen traditionellen Irrtum unter universitaer ausgebildeten Philosophen zu geben, dass das, was ein Philosoph an Erfahrungen in seinem Leben gesammelt hat, nichts mit seiner Art und Weise zu philosophieren zu tun habe. Kleine Reminiszenz am Rande: Ulrich – ein in Halle lehrender Philosophieprofessor und Zeitgenosse Kants – hat Kant wegen dessen apriorischer, vernunftgeleiteter Handlungstheorie – als eine Art ‚Neutrum‘ bezeichnet.

Bataille hat sich nach meiner bisherigen Lektuere sehr gruendlich Rechenschaft ueber die ganz und gar menschlichen Anfaenge seines ‚philosophieren‘ abgelegt. Es wird beklagt, dass er sich nie deutlich ueber seine Erfahrungen geaeuszert hat. Mir fehlt da nichts. In den schriftstellerischen und philosophierenden Verarbeitungen seines Erlebens – die er auch als Entstellungen charakterisiert – wird fuer mich die Heterogenitaet seiner Erfahrungen beim Lesen nachvollziehbar. Waere er noch konkreter geworden, haette man ihn … (Unvollendete Saetze gibt es bei Bataille immer wieder. Inzwischen gefaellt mir das. Frei nach Goethe: Wer immer sagt, was er denkt, ist ein Grobian.) Noch eine Reminiszenz: Der Psychiater Bruno Bettelheim wurde in den Vereinigten Staaten als Luegner bezeichnet und ihm wurden Rachegedanken gegen die Nazis unterstellt, als er seine einjaehrigen KZ-Erlebnisse veroeffentlichte (Verarbeitet hat er seine KZ-Erfahrungen in Erziehung zum Ueberleben. Zur Psychologie der Extremsituation.). Die Erzaehlungen Batailles ueber das, was er erlebt und beschrieben hatte, wurden immer wieder in Zweifel gezogen. Bataille hat sich nie darum bemueht, sie auszuraeumen. In einer Erzaehlung – W.C. – stellte er dar, wie einer erwachsenen Frau – anstelle des von ihr erhofften Mitgefuehls – Ablehnung und Verachtung der Menschen zu teil wurde, denen sie ihr Kindheitsschicksal anvertraut hatte, das sie selber ueber Jahre traumatisiert hatte. Es gibt Kindheitsschicksale, die in einem Masze als verfemt gelten, sodass den Betroffenen sogar ein spaeteres Mitgefuehl nicht nur versagt bleibt, sondern die Betroffenen selber als Verfemte angesehen werden. Diese Verurteilung hat auch Bataille erlebt.

Das Schreiben duerfte fuer ihn eine Art Gratwanderung gewesen sein, zwischen dem Beduerfnis das mitzuteilen, was er zu bedenken geben konnte und der Angst vor verfemenden Antworten, mit denen er zu rechnen hatte. André Breton hat Batailles ‚philosophieren‘ schon zu dessen Lebzeiten oeffentlich deutlich herabgesetzt. Der wissenschaftliche Charakter vieler Schriften und Studien war – neben den Entstellungen und Anonymisierungen seiner „ernsten, erotisch-tragischen“ Prosa – eine geeignete Moeglichkeit für Bataille diese Gratwanderung zu bestehen. Das Schreiben von Buechern – davon gehe ich aus – zu theoretischen Projekten fiel ihm schwer. An einem seiner Hauptwerke Der verfemte Teil hat er siebzehn Jahre gearbeitet. Es scheint im leichter vor der Hand gegangen zu sein, sich in Beitraegen von Zeitschriften zu aeuszern. Sein Projekt, die ‚Totalitaet alles Seins‘ vollstaendig darzustellen, blieb unvollstaendig. Er war damit nicht zufrieden: „Was dem Leser angeboten wird, darf kein isoliertes Einzelstueck sein, sondern es muss Zusammenhaenge zeigen, in die es eingebettet ist. Eigentlich muesste dies die umfassende Zusammenstellung des Menschlichen bzw. ein umfassendes Denkgebaeude sein. … „ (Kendall: Georges Bataille. London 2007, S. 95)

Bataille hatte Glueck, einen Psychiater (Adrien Borel, Gruendungsmitglied der Psychoanalytischen Gesellschaft Paris) zu finden, der offensichtlich ‚kompetent‘ und auch ‚unorthodox‘ genug war, um sich von den Folgen seines Kindheitsschicksals zu entlasten – Bataille beschrieb das Ergebnis der Analyse als Befreiung. Nun fühlte er sich belastbar genug, seine intellektuellen Faehigkeiten schriftstellerisch nutzen. Borel hatte die Entstehung von Die Geschichte des Auges in Gespraechen mit Bataille freundlich und unterstützend begleitet. Bataille veroeffentlichte sie unter einem Pseudonym – wohl vorausahnend, dass der Inhalt der Geschichte zu weiteren diesmal in der breiten Oeffentlichkeit zugefuegten Stigmata fuehren wuerde. Wenige Jahre vor seinem Tod schrieb er an seinen Bruder: „… bei mir sorgte das, was ich erlebt hatte, lebenslang fuer verwirrende Unruhe. Was vor 50 Jahren geschah, laesst mich noch heute zittern.“ (Michel Surya: Georges Bataille: An Intellectual Biography. London/New York 1992, S. 5.)

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