Wahles ‚Vorkommnisse‘

‚Vorkommnisse‘ ist kein Kunstwort, sondern aus dem alltäglichen Sprachgebrauch genommen. Was vorkommt, nennt man Vorkommnisse. Davon geht Wahle grundlegend für Denken und Handeln aus. Damit ist jeder, der am Ende der jahrtausendealten Tradition des Philosophierens steht und sich bei Wahle lesend umsieht, erst einmal ins Dunkel geworfen. Die vertrauten Fachwörter für das, was man als Ausgangsbasis fürs Pragmatische – wie auch fürs Theoretische – nimmt – z.B. Bewusstsein, Ich, Geist usw. -, fehlen. 

Viele werden sich damit beruhigen können, dass Wahle dem Materialismus bzw. dem Positivismus zugeordnet wird. Philosophen des Geistes, analytische Philosophen und andere Metaphysiker haben damit nichts zu tun und brauchen sich damit nicht zu beschäftigen. Mehrheitlich ist sich die philosophische Zunft immer noch darin einig, dass ohne ‚Geist‘, ‚Bewusstsein‘ und ‚Ich‘ nicht philosophiert werden kann bzw. darf.

Wahle thematisierte seine ‚Erkenntniskritik‘, aber eigentlich verwirft er Erkenntnis. ‚Vorkommnisse‘ könnte man um- und vorsichtig als ‚erkennbare‘ Produkte bezeichnen, deren Haupteigenschaft darin besteht, dass sie vorhanden sind. Wahle verwirft Ursachen und dennoch nennt er ‚Urfaktoren‘ als das, was vor jedem ‚Vorkommnis‘ , vor jedem ‚hören‘, ’sehen‘ und ‚berühren‘ wirklich da ist. Er konstruiert zwischen ‚Urfaktoren‘ und ‚Vorkommnissen‘ eine wechselseitigen Wirkzusammenhang. Mit den ‚Vorkommnissen‘ geschieht Veränderung und Umgestaltung, dies entspricht der von Urfaktoren bewirkten Aktivität von Sinnen und Gehirn.

Einen etwas anderen Zusammenhang als die traditionellen Philosophen hat auch  David Hume vor Jahrhunderten beschrieben, wenn er Kausalität thematisierte. Er sprach dabei von ‚Ereignisfolgen‘. Ähnlich wie Wahle bemühte sich Hume so, der  Unterstellung zu entgehen, eine neue Kausalitätstheorie postuliert zu haben, wie es sich aus üblicher Sicht nahe legt.     

Zu den ‚Urfaktoren‘ haben wir keinen Zugang: Wir haben keine Ahnung wie sie sind und welchen Anteil ihre Wirklichkeit an unserer Wirklichkeit hat. Dass es Urfaktoren geben muss, ist lediglich eine Schlussfolgerung aus dem, dass es ‚Vorkommnisse‘ gibt. Möglicherweise ist es die Art dieser Schlussfolgerung, die viele veranlasste, ihn als Positivisten zu bezeichnen. Was auch immer in seinem Philosophieren damit bezeichnet wird. Mich kann man da nicht fragen. Ich habe genauso wenig Ahnung wie Wahle, wie die traditionelle Philosophie Kategorien jedwelcher Art festlegt.

„Wir haben absolut kein Recht zu der Annahme, dass die an sich bestehende wahrhafte Welt der subjektiven, phänomenalen, optisch-taktilen in irgendwelcher Form gleich oder ähnlich sei.“ (Mechanismus S. 42.) Berechtigt aber sei die Annahme, dass es Urfaktoren gebe, über die wir nichts weiter wissen.

Wer beim ersten Lesen ungeduldig wird, für den hier ein Hinweis von Wahle: ‚ Das, was ich sagen möchte, ist leichter zu kritisieren als zu kapieren.‘ (Vgl. Mechanismus S. 35.)

 

Richard Wahle (1857 – 1935)

In den mir bekannten deutschen Philosophiegeschichten wird er nicht erwähnt. Eine Ausnahme ist das Philosophen-Lexikon von  Rudolf Eisler, der ihn mit einem sachlich relevanten  Artikel würdigte. Wahle philosophierte ausgehend von ‚Vorkommnissen‘. Diese ‚Vorkommnisse‘ ereignen sich stets unter Mitwirkung des Nervensystems. Letzteres bezeichnete er auch mit „Sinne und Gehirn“. Er ist also einer der seltenen Philosophen, die die das menschliche Handeln physiologisch auffassen. Diese Seltenheit hat wohl auch dafür gesorgt, dass man ihn nicht kennt. Da habe er noch Glück gehabt, schrieb der Zeitgenosse Erwin Ritter von Zach (1872-1942), eigentlich habe er damit rechnen können, dass man ihn steinige. Zumal Wahle die ganze akademische philosophische Zunft angegriffen habe, weil er davon ausging, dass ‚Wissen‘ nicht gehe und daher Wissenschaft nichts tauge. Diese Untauglichkeit attestierte er vor allem der Philosophie, die es im Laufe der Geschichte nicht geschafft habe, eine Wissenschaft einzurichten, die Kenntnisse und Methoden vermitteln könne.

Seinen von ihm veröffentlichten Bericht über die Geschichte der Philosophie nannte er ‚respektlos‘: Er kam zu dem Schluss, dass die Philosophie ‚ausgerungen‘ hat.Er nannte sie einen ‚Irrgarten‘, in dem irrtümlicherweise immer noch viele etwas Brauchbares zu finden hoffen, weshalb die alte Philosophie nicht tot zu kriegen sei. Für ‚haltbar‘ kam für ihn nur folgendes  Minimum in Frage: Die bereits erwähnten ‚Vorkommnisse‘ und Erinnerungen, für die Wahle auch den Terminus ‚Mineaturen‘ verwendete. ‚Vorkommnisse‘ charakterisierte er als ‚flächenhaft‘. Auch Berkeley  hatte bereits bestritten, dass die Fähigkeit zu dreidimensionalem Sehen ein Behauptung sein dürfte, die sich bei näheren Untersuchungen nicht bestätige. Irrtümliche Behauptungen nannte Wahle gelegentlich „Lüge“. Die übliche moralische Herabsetzung Andersdenkender könnte Anlass für diese Wortwahl gewesen sein: die ansonsten nicht zu seinem Denken und Hinsehen passt.

Liste der Veröffentlichungen von Richard Wahle bei Wikipedia.