Reproduktion alter Lehren bei Kant

 

Wahle schaetzte Philosophen, wenn sie ‚originelle Fragen und Loesungen erfinden’. Alle anderen brauche man eigentlich gar nicht zu erwaehnen, fuegte er hinzu. Kant fiel zuerst dadurch auf, dass er an einer Hochschule  – wenn auch vorsichtig – zunaechst verkuendete, dass weder Gott noch die Seele beweisbar sind. Damit schwamm er im Strom seiner Zeit, aus dem er sich aber wieder zurueckzog.

Wer sich in der Philosophiegeschichte auskennt, findet bei Kant nur laengst bekannte Ideen und scholastische Unterscheidungen, so Wahle in seiner „Tragikomoedie der Philosophie“. Der Zeitgeist wurde jedoch von neuen Gedanken und Ideen gepraegt. Im 18. Jahrhundert habe sich die philosophische Welt beim Grossteil der Gebildeten materialistisch und atheistisch veraendert. Deismus, Religionskritik , historische Forschungen und Philosophien wie die von Lamettrie, Helvetius , Holbach, D’Alemberts, Diderot, Cudworth, Voltaire, Rousseaus gehoerten zu diesen Veraenderungen und verbuendeten sich mit denen des allgemeinen Weltbildes.

Vor Kant hatte bereits Locke die Vernunfttaetigkeit analysiert und festgestellt, dass einzig die sinnliche Wahrnehmung  menschliches Denken bestimmt und daher Grundlage wissenschaftlicher Forschung sein müsse.  Hume hatte sich Locke’s Analyse angeschlossen.  Hinsichtlich der Unerkennbarkeit des Dinges an sich, der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit hatte er Locke’s Analyse konsequent zu Ende gefuehrt. Kant war daher nicht der erste, der die Vernunft analysierte. Seine „kopernikanische Wende“, die er als seine Idee ausgab, hatten bereits andere vollzogen.  

Kant habe sich seinen Vorgaengern einerseits angeschlossen, indem er forderte, dass man beim Denken und Forschen von den Sinnen ausgehen muesse; aber seine Unfreiheit gegenueber seinen von Kindheit an pietistisch gepraegten Beduerfnissen veranlasste ihn, gleichzeitig metaphysischen Neigungen nachzugehen. Er griff so zusaetzlich zu entgegengesetzten Auffassungen hauptsaechlich zu denen von „Wolff = Aristoteles“, Leibniz und Baumgarten, bei denen er auch die Instrumente  fand, um seine „Analyse der Vernunft“ umfassend durchfuehren zu koennen. So verwendete er „die alten angeborenen Ideen und Saetze“ und stattete damit im Sinne von Leibniz bzw. von Platon die Seele aus. Sie dienten ihm zur Begruendung der Transzendalität der reinen Vernunft und der reinen Begriffe. Bei Baumgarten fand er die zahlreichen differenzierenden Begriffe, logischen und psychologischen Einteilungen, die sein Unternehmen so umfassend erscheinen lassen.

An Kants Lehre sei nichts originell und an seinen scholastischen Formulierungen fast nichts, fasste Wahle seine Beschreibungen zusammen. Originell seien seine Termini. Kant nannte seine Art der „Ueberschreitung der Erfahrung“ „transzendental“, behauptete, dass der „Idealismus eine Grundbegabung des Menschen“ sei und nannte daher das, was er tat „transzendentaler Idealismus“. Das war ein neuer Terminus, aber die Sache gab es schon vorher. Historiker trugen dazu bei, „eine Neuheit des Standpunktes vorzutaeuschen“, indem sie neue Systematisierungen einrichteten und neue ‚ismen“ schufen. Doch Kants Lehre bleibe „immer nur eine Reproduktion alter Lehren.“

Trotz seiner Kritik wuerdigt Wahle ihn.

Kant ist als Person ehrwuerdig durch seinen Ernst, seinen  Wahrheitsdrang, als Friedensherold, durch die fleiszige, ausdauernde, wenn auch an Vorbilder sich anschlieszende, umsichtige Administration seines Systems, durch unterscheidungsfrohen Scharfsinn, durch sein erhabenes Pflichtgefuehl, durch seine gelegentlich hervorbrechende Redekraft – aber das muss unserer auf die originellen Progresse der Philosophie bedachten Darstellung so gleichgueltig sein, als es ihr gleichgueltig sein muesste, wenn er ein Spitzbube gewesen waere.

 

Vgl. Wahle: Tragikomoedie der Weisheit, S. 323-330.

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