Mein Interesse fuer Bataille …

… ergab sich, als ich an einem philosophischen Artikel fuer Wikipedia arbeitete. Der Bataille-Artikel, auf den ich dabei stiesz, war ziemlich unvollstaendig und die philosophischen Teile fuer einen Leser ohne Kenntnisse von Batailles Schriften wenig nachvollziehbar.

Waehrend der Lektuere von Michel Suryas Bataille-Biographie entstand mein erster Eindruck – der sich durch weitere Lektueren bestaetigte -, dass Batailles ’schreiben‘ und ‚denken‘ in sehr ausgepraegter Weise mit dem ersten Fünftel seines Lebens zusammenhing.  Es gibt Philosophen, bei denen sich kaum Spuren derartiger Zusammenhaenge finden.  Bataille thematisierte diesen Zusammenhang. Seine Schriften sind zwar nicht direkt autobiographisch, aber sie nähren sich von seinem Leben, meinte Ian Pindar, Rezensent beim Guardian.

Mein erstes Resuemee war: Es gibt Menschen die erleiden ein Schicksal, das sie dem Chaos aussetzt. Sie arrangieren sich mit diesem Chaos und orientieren sich, indem sie sich z. B. ihr eigenes Utopia erfinden. Georges Bataille scheint zu diesen gehoert zu haben. Er erfand ein unverwechselbares ‚philosophieren‘ innerhalb von Dichtung und Wissenschaft. Die surrealistische Bewegung bot ihm vermutlich einen gesellschaftlich minimal akzeptierten Rahmen, dieses ‚philosophieren‘ in einem Kreis von anderen ‚Utopianern‘ zu tun – ‚Utopisten‘ passt nicht, das Wort hat die Mitbedeutung von Menschen, die eigentlich ueberfluessig sind. Bataille soll sich – nach Auskunft der zwei Biographen Michel Surya und Stuart Kendall – eine Zeitlang in der experimentierfreudigen Gruppe um Alfred Metraux, André Masson, Joan Miró und Michel Leiris sehr wohl gefuehlt haben.

Das Chaos seiner Erlebnisse ergab bestimmte Erfahrungen – Rolf Reinhold bezeichnet – fuer mich sehr brauchbar – ‚Erfahrungen‘, als Schlussfolgerungen aus dem, was ein Mensch erlebt hat. Diese Erfahrungen lieszen Ideen fuer die folgenden, zwei groszen Vorhaben entstehen,

  • 1. … in allem das Gegenteil zu tun und zu denken, was sein Vater getan und gedacht hatte.
    2. … die Gesamtheit aller Arten menschlichen Verhaltens zusammen mit natuerlichen Ablaeufen komplett und umfassend darzustellen.

Keines dieser beiden Vorhaben setzte er vollstaendig um. Mehrere Jahre lang beschaeftigte er sich intensiv mit dem christlichen Glauben. Er wartete auf einen göttlichen Ruf, um Mönch oder Priester zu werden. Er wartete vergeblich. Er fand im christlichen Glauben überhaupt keine Orientierung fuer sein Handeln. Wie seinem Vater blieb Bataille der Zugang zum christlichen Glauben verschlossen. Beim Studieren der Religionsgeschichte fand er dennoch Anregungen fuer sein ‚denken‘.

Die Gesamtheit menschlichen und natuerlichen Lebens, die „Totalitaet des Seins“ entglitt ihm beim ’schreiben‘, was ihm vorgeworfen wurde. Genauso unpassend wäre es, ihm vorzuwerfen, dass er bis ans Lebensende in panischen Schrecken geriet, wenn er sich an seine Kindheit erinnerte.  Die Vielzahl aller Aspekte des Lebens mit einem Blick zu erfassen, halte ich fuer ein XXXL, typisch jugendliches Vorhaben. Hier verschaetzte er seine Faehigkeiten und Kapazitaeten. Ich gehe sogar davon aus, dass Menschen prinzipiell nicht in der Lage sind, eine derartige umfassende XXXL- Sicht – einschlieszlich aller Details – zu bilden. Das macht mich so skeptisch gegen Theorien, mit denen Menschen die Welt verbessern moechten. Bataille machte aus seinen Problemen mit einer umfassenden Theorie eine Tugend und aeuszerte, dass er so seine Souveraenitaet bewahre. Ausrede? Möglich. Für mich handelt es sich eher um die begrenzten Moeglichkeiten sprachlicher Kommunikation, die Bataille als ’schwache Kommunikation‘ bezeichnete.

Alles, was moeglich ist, in die Gesamtheit, in die „Totalitaet seines Seins“ zu integrieren, scheint mir ein charakteristisches Merkmal von Batailles ‚denken‘ zu sein. Ich sehe seine ’neuen Mythen‘, die er erfand, damit im Zusammenhang stehend. Mythen haben den Vorteil, dass sie „alles Moegliche“ verborgen hinter Metaphern mitmeinen und so eine maximale Zahl an Interpretationen zulassen. Als Beispiel ein Satz aus Der Schlieszmuskel der Sonne (L’anus solaire, 1927): „Der grosze Koitus mit der himmlischen Atmosphaere wird durch die Laufbahn der Erde um die Sonne bestimmt.“ Diese Dichtungen mit der Natur wirken auf mich reizvoll. Sie reduzieren außerdem komplexe Zusammenhänge auf ein überschaubares Bild. Und diese Bilder sind Geschichten, die Menschen sich erzählen. Mythen sind Geschichten, die durch Hörensagen umherlaufen. Bataille wollte das gemeinsame Wirken rationaler und irrationaler Elemente in der Welt darstellen. Dazu passend sollte eine neue „mythologische Anthropologie“ nach Art des oben zitierten Satzes entstehen, in der er irrationale Hypothesen darstellen wollte. Auch diese Idee umzusetzen, ist ihm nur in Ansaetzen (Der verfemte Teil,1949.) gelungen. Doch ich finde es anregend und menschlich, wenn Menschen Unvollstaendiges schreiben. Dies kommt meinem philosophisch begruendeten Vorurteil zugute, dass Menschen nie damit fertig werden, die Dinge so zu sehen, wie sie ihnen erscheinen. Da die Menschen und die Dinge sich staendig aendern, aendern sich menschliche Sichten. Um dagegen fertige Sichten zu produzieren, etwas abschließend zu behandeln, müssen Menschen dogmatisch denken, was Bataille nicht getan hat.

„Schreiben heißt, das Glueck suchen. Das Glueck belebt die kleinsten Teile des Universums: das Funkeln der Sterne ist seine Kraft, eine Feldblume sein Zauberspruch. … Der Zipfel des Gluecks ist von der Traurigkeit der Geschichte des Auges (1928) verschleiert. Ohne diese Geschichte waere er unerreichbar.“ (Das obszoene Werk, S. 190.)

Bataille schrieb mitten aus seinem Erleben.

In Peter Wiechens Buch über Bataille las ich, dass Sartre im Hinblick auf Bataille u. a. kritisierte, dass er Theorien mit seinen privaten Erfahrungen verknüpfe. Ich habe das noch nicht nachgeprüft. Doch soweit ich mich an Sartres Texte noch aus meiner Jahrzehnte zurückliegenden existentialistischen Zeit erinnere – damals mit schwarzem Rollkragenpullover, Kaffee und Zigaretten und langen Gespraechen in einem Stuttgarter Café –, koennte dies zu seinem Denken passen. Es scheint da ueberhaupt einen traditionellen Irrtum unter universitaer ausgebildeten Philosophen zu geben, dass das, was ein Philosoph an Erfahrungen in seinem Leben gesammelt hat, nichts mit seiner Art und Weise zu philosophieren zu tun habe. Kleine Reminiszenz am Rande: Ulrich – ein in Halle lehrender Philosophieprofessor und Zeitgenosse Kants – hat Kant wegen dessen apriorischer, vernunftgeleiteter Handlungstheorie – als eine Art ‚Neutrum‘ bezeichnet.

Bataille hat sich nach meiner bisherigen Lektuere sehr gruendlich Rechenschaft ueber die ganz und gar menschlichen Anfaenge seines ‚philosophieren‘ abgelegt. Es wird beklagt, dass er sich nie deutlich ueber seine Erfahrungen geaeuszert hat. Mir fehlt da nichts. In den schriftstellerischen und philosophierenden Verarbeitungen seines Erlebens – die er auch als Entstellungen charakterisiert – wird fuer mich die Heterogenitaet seiner Erfahrungen beim Lesen nachvollziehbar. Waere er noch konkreter geworden, haette man ihn … (Unvollendete Saetze gibt es bei Bataille immer wieder. Inzwischen gefaellt mir das. Frei nach Goethe: Wer immer sagt, was er denkt, ist ein Grobian.) Noch eine Reminiszenz: Der Psychiater Bruno Bettelheim wurde in den Vereinigten Staaten als Luegner bezeichnet und ihm wurden Rachegedanken gegen die Nazis unterstellt, als er seine einjaehrigen KZ-Erlebnisse veroeffentlichte (Verarbeitet hat er seine KZ-Erfahrungen in Erziehung zum Ueberleben. Zur Psychologie der Extremsituation.). Die Erzaehlungen Batailles ueber das, was er erlebt und beschrieben hatte, wurden immer wieder in Zweifel gezogen. Bataille hat sich nie darum bemueht, sie auszuraeumen. In einer Erzaehlung – W.C. – stellte er dar, wie einer erwachsenen Frau – anstelle des von ihr erhofften Mitgefuehls – Ablehnung und Verachtung der Menschen zu teil wurde, denen sie ihr Kindheitsschicksal anvertraut hatte, das sie selber ueber Jahre traumatisiert hatte. Es gibt Kindheitsschicksale, die in einem Masze als verfemt gelten, sodass den Betroffenen sogar ein spaeteres Mitgefuehl nicht nur versagt bleibt, sondern die Betroffenen selber als Verfemte angesehen werden. Diese Verurteilung hat auch Bataille erlebt.

Das Schreiben duerfte fuer ihn eine Art Gratwanderung gewesen sein, zwischen dem Beduerfnis das mitzuteilen, was er zu bedenken geben konnte und der Angst vor verfemenden Antworten, mit denen er zu rechnen hatte. André Breton hat Batailles ‚philosophieren‘ schon zu dessen Lebzeiten oeffentlich deutlich herabgesetzt. Der wissenschaftliche Charakter vieler Schriften und Studien war – neben den Entstellungen und Anonymisierungen seiner „ernsten, erotisch-tragischen“ Prosa – eine geeignete Moeglichkeit für Bataille diese Gratwanderung zu bestehen. Das Schreiben von Buechern – davon gehe ich aus – zu theoretischen Projekten fiel ihm schwer. An einem seiner Hauptwerke Der verfemte Teil hat er siebzehn Jahre gearbeitet. Es scheint im leichter vor der Hand gegangen zu sein, sich in Beitraegen von Zeitschriften zu aeuszern. Sein Projekt, die ‚Totalitaet alles Seins‘ vollstaendig darzustellen, blieb unvollstaendig. Er war damit nicht zufrieden: „Was dem Leser angeboten wird, darf kein isoliertes Einzelstueck sein, sondern es muss Zusammenhaenge zeigen, in die es eingebettet ist. Eigentlich muesste dies die umfassende Zusammenstellung des Menschlichen bzw. ein umfassendes Denkgebaeude sein. … „ (Kendall: Georges Bataille. London 2007, S. 95)

Bataille hatte Glueck, einen Psychiater (Adrien Borel, Gruendungsmitglied der Psychoanalytischen Gesellschaft Paris) zu finden, der offensichtlich ‚kompetent‘ und auch ‚unorthodox‘ genug war, um sich von den Folgen seines Kindheitsschicksals zu entlasten – Bataille beschrieb das Ergebnis der Analyse als Befreiung. Nun fühlte er sich belastbar genug, seine intellektuellen Faehigkeiten schriftstellerisch nutzen. Borel hatte die Entstehung von Die Geschichte des Auges in Gespraechen mit Bataille freundlich und unterstützend begleitet. Bataille veroeffentlichte sie unter einem Pseudonym – wohl vorausahnend, dass der Inhalt der Geschichte zu weiteren diesmal in der breiten Oeffentlichkeit zugefuegten Stigmata fuehren wuerde. Wenige Jahre vor seinem Tod schrieb er an seinen Bruder: „… bei mir sorgte das, was ich erlebt hatte, lebenslang fuer verwirrende Unruhe. Was vor 50 Jahren geschah, laesst mich noch heute zittern.“ (Michel Surya: Georges Bataille: An Intellectual Biography. London/New York 1992, S. 5.)

Bataille verwirbelt die Namen

Der Surrealismus ist eine „universelle Revolte … in der sich, George Bataille zufolge, zugleich der tumultuarische Geist einer ganzen Generation reflektiert. … diese hat auch die Themen und Formen vorgegeben, die selbst unseren Protest heute noch determinieren, bis hin zur Studentenrevolte, ja, sogar noch darueber hinaus. Am Ende des 20. Jahrhunderts scheinen wir immer noch an jenem Punkt zu stehen, der durch den Surrealismus an seinem Beginn bezeichnet wurde. Und darin liegt zugleich seine unverminderte Aktualitaet. Darin manifestiert sich … auch seine geschichtsphilosophische Besonderheit …“*

Derart ausgedehnte Charakterisierungen der surrealistischen Bewegung sind in der juengeren Literatur anzutreffen. Weltweit werden surrealistische Ideen in Literatur, Philosophie, Theater, Film. Poesie und bildnerischer Kunst diskutiert und dargestellt. Nach meinem bisherigen Eindruck war Bataille auf eine Weise surrealistisch, die etwas neben der Idee ueblicher surrealistischer Erfindungen lag. Er erfand surrealistische Vorstellungen, die nur aus seiner Lebenserfahrung hervorkamen und die neue Sichten auf einen unbekannten Bios bzw. „heteronome“ Lebenswerte in Aussicht stellten.

Folgt man Bezeichnungen wie ‚Revolte‘, ‚tumultuarischer Geist‘, dann koennte man schlussfolgern, George Bataille sei ‚ein Rebell‘ gewesen. Aber auch ‚Exkrementenphilosoph‘, ‚paradoxe Philosophie‘, ‚obszoene Texte‘, … etc. werden ueber ihn und sein philosophierendes Schriftstellern gesagt. Klassifizierende Interpretationen geben einen engen, ‚homogenen‘ Raum fuer Interpretationen vor, die Batailles offenem, ‚heterogenem‘ Schreiben Grenzen setzen. Zusaetzlich sind seine eigenen Namensgebungen fuer Zusammenhaenge und Sachverhalte fuer jeden Leser interpretationsbeduerftig. Das gilt zwar fuer jedes Lesen von Texten anderer, aber Bataille’s Texte signalisieren das mit anstoeszigen Merkmalen. Im Erfinden von Interpretationen schlussfolgern alle Interpretatoren immer wieder begrenzt zu sein. Eigene Aeuszerungen werden auszerdem als viel zu enges Haus empfunden. Mir geht es nicht anders. Dabei entsteht Lachen ueber eigene Reflexionen und über das, was durch Fremdes angeregt wird. Auf diese Weise bekomme ich eine vage Vorstellung von dem, was mich an Bataille fasziniert. Sie umfasst Spielerisches, moegliche Unmoeglichkeiten und Naives. Philosophische Probleme sind blosz laecherlich, meinte der skeptische Hume. Das stimmt!

Vertreter der surrealistischen Bewegung hatten und haben den Wunsch, neue Ausdrucksmittel zu erfinden. Neue Woerter und Metaphern gehoerten zu ihren Arbeitsgebieten, genauso wie neue bildnerische und musikalische Ausdrucksmittel. Bataille hat sich damit hervorgetan, neue Bedeutungen zu erfinden, indem er bekannte Termini in einen neuen Kontext rueckte. Das tut eigentlich jeder irgendwie, aber es werden – vor allem unter Philosophen – selten Konsequenzen daraus gezogen. Batailles Bedeutungsvarianten sind durch seine Reflexion innerviert, i. S. v. mit sensorischen Reizen versorgt und haben ihn zu weiteren Aeuszerungen angeregt. Sie wirkten und wirken auf den Leser in aehnlicher Weise. So verändern sie.

Im Folgenden erlaeutere ich an dem Wort EXZESS, das was ich gerade behauptet habe.
Mit Exzess wird ueblicherweise Maszlosigkeit und Ausschweifung bezeichnet. Beide Bedeutungsvarianten sind negativ besetzt. Menschen, die maszlos und ausschweifend leben, werden moralisch abgewertet. Es sind Menschen, vor denen Eltern ihre Kinder warnen, weil man ihnen alles zutraut, blosz nichts Gutes. Doch  „Das Gute ist die Heuchelei.“**, meinte Bataille, weil niemand sagen kann, was ‚das Gute‘ ist. Menschen tun so, als ob sie ‚wissen‘, was gut ist. Menschen leben aber tatsaechlich ihren Beduerfnissen gemaesz. Theorien fungieren als Schutzschilde. Menschen finden es erfuellend, sich in der Erotik einem anderen auszuliefern, sich ihm hinzugeben, sich an ihn zu verschwenden: Das nennt Bataille Exzess bzw. exzessiv. Exzessiv laesst sich ferner so denken, wie Bataille denkt: „Ich denke wie ein Maedchen, das sein Kleid hochhebt.“ *** Excessiv bezeichnet auszerdem ein biologisches Prinzip. Der Mensch verausgabt sich bis zum Tode. Lebensaeuszerungen ueberschwemmen den Menschen, z. B. in der Sexualitaet, im Lachen, in der Angst, im Schrecken, in der Freude … etc. Dies entspricht wiederum einem kosmischen Prinzip: Die Sonne verausgabt sich gegenueber der Erde, ohne etwas dafuer zu erwarten: „Das authentische Boese kennt keine Selbstsucht.“**

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 *Rita Bischof: Teleskopagen, wahlweise: der literarische Surrealismus und das Bild. Frankfurt/Main 2001, S. 52.
** Bataille alias Louis Trente: Der Kleine. (Le Petit) 1943, postum 1963 erschienen, In: Das obszoene Werk. Hamburg 1977, S. 173.
** *Ders., Méthode de méditation, S. 200, hier zit. nach Boelderl, S.4. Zu dem Behaupteten vgl. den ganzen Abschnitt ebd. S.3f.

Wer sich im Besitz der Wahrheit glaubt, …

moechte ‚recht haben‘, moechte ‚beweisen‘, dass nur seine Sichtweise die ‚richtige‘ ist. Gegen andere Sichtweisen muss er sich verwahren. Skeptische Philosophen koennen Irrtuemer einraeumen. Sie gingen und gehen davon aus, dass ‚richtig‘ und ‚wahr‘ Kriterien sind, ueber die niemand verfuegt – auch sie nicht. Fuer Skeptiker ist ‚recht haben wollen‘ und ‚beweisen wollen‘ eine Art Sackgasse. Fuer sie folgt aus ihrer skeptischen Praxis des Hinsehens, ’sich eines abschlieszenden Urteils zu enthalten‘. Jedes Hinsehen ergibt in aller Regel immer wieder einen neuen, bzw. etwas anderen Aspekt, auch wenn der neue sich nur minimal von dem Vorhergehenden unterscheidet. Diese durch Hinsehen entstehende Vermehrung von Unterschieden macht die Differenziertheit und die Qualitaet von Sichtweisen aus, die jeder autonom erheben kann. Dies zeigen z. B. Aeuszerungen von Menschen ueber die unterschiedlichsten Lebensbereiche, in denen sie professionell taetig sind bzw. waren.

Der Rat ‚immer wieder hinzusehen‘ fuehrte bereits in der Antike zu Missverstaendnissen. Viele Zeitgenossen des Pyrrhon – allen voran die Stoiker – stieszen sich an der Idee der Enthaltung und unterstellten dem, der dieser Idee folgte, dass er lebensuntuechtig sein muesse. Sie gingen zurecht davon aus, dass jeder Mensch handeln muss. Sich eines Urteils zu enthalten, schien ihnen unmoeglich. Dies entspricht durchaus dem, was skeptische Philosophen sowie Neurowissenschaftler inzwischen annehmen: „Unsere physiologische Natur bestimmt nach Gesetzmaeszigkeiten, die wir nicht kontrollieren koennen, dass wir gar nicht anders koennen, als Urteile zu faellen, so wie wir automatisch atmen und wahrnehmen“ (Hume Treat. I,4,1,7.) Daraus zu folgern, dass die Notwendigkeit des momentanen ‚handeln‘ und ‚urteilen‘ dauerhafte Urteile notwendig mache, ist das seit Jahrhunderten gebraeuchliche explizite und implizite Missverstaendnis, das Skepsis abwehrte, sie ungeeignet fuers Philosophieren hielt und Skeptiker der Laecherlichkeit preisgab. Ueber den in vielen Feldzuegen erprobten Pyrrhon wurde u. a. die Laecherlichkeit erzaehlt, dass er nur in Begleitung einer Magd sein Haus verliesz, um wieder nach Hause zu finden. Menschenwissenschaftler unter den Philosophen – wie Hume – bemuehten sich ohne groszen Widerhall darum, dieses Missverstaendnis auszuraeumen: „Niemand duerfte je einen so laecherlichen Menschen getroffen oder mit einem verkehrt haben, der handelnd oder forschend keiner Vorstellung bzw. keiner Annahme ueber das gefolgt waere, was er zu erreichen hoffte.“ (Hume, Enquiry, XII, 2.)

Handlungsbeduerfnisse, die aus menschlichen Grundbeduerfnissen entstehen, sind in der metaphysisch orientierten Philosophie nicht gruendlich mitbedacht worden. Kant z. B. hat Kritik anderer an der praktischen Mangelhaftigkeit seiner Ethik stets abgewehrt und darin keinen Anlass gesehen, sein apriorisches Konzept zu ueberpruefen, bzw. es zu revidieren. (Vgl. die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kant und Ulrich. Kant: Metaphysische Anfangsgruende der Naturwissenschaften. In: Akademieausgabe von Kants gesammelten Werken, Bd. IV, S. 474/6. Christian Jakob Kraus: Rezension zu Ulrichs ‚Eleutheriologie‘, In: Akademieausgabe von Kants gesammelten Werken, Bd. VIII, S. 451ff.) Diese strukturell vorhandene Abwehr in der Philosophie gegen die Beschaeftigung mit Konkretem hat ‚philosophieren‘ in Verruf gebracht. Die Philosophie, so wie sie sich noch heute mehrheitlich als ‚Analytische‘ praesentiert, stoeszt einen eigenstaendig philosophierenden Jedermannphilosophen vor den Kopf. Ich frage mich dabei nach dem Interesse dieser Philosophen und dem Nutzen dieses Philosophierens.

Jahrhundertlange Uebungen in Wahrheitsdiskussionen, die man um der Wahrheit willen fuehrte, haben ferner dazu gefuehrt, dass skeptisches Philosophieren in Skeptizismus umgemuenzt wurde. Die Bedeutung „zweifeln“ beherrscht bis heute die entstellende neuzeitliche Auffassung der Skepsis. ‚Zweifeln‘ war keine Mitbedeutung antiker Skepsis gewesen. Zweifel an Dogmen sind und waren stets Merkmale religiöser Auffassungen. Sie ergaben sich ausgepraegt als Folge von ‚forschen‘ im Mittelalter und in der Neuzeit. Die Art von Enthaltung wie sie antiken Menschen nahe war, kann sich heute noch in der Redewendung „Da bin ich skeptisch!“ aeuszern. Menschen – so Hume’s Sicht – brauchen nicht zu fuerchten, aus ihrer Skepsis Nachteile zu ziehen. Sie haben physiologisch wirksame Hemmungen gegen den Skeptizismus, denn sie orientieren sich an ihren Lebensbeduerfnissen. „Wir sollten in allen Wechselfaellen des Lebens stets skeptisch bleiben. Glauben wir z. B. dass Feuer waermt und Wasser kuehlt, so liegt das lediglich daran, dass jede andere Sichtweise viel zu schmerzhafte Nachteile hat.“ (Hume, Treatise, 1,4,7,11)

Wenn die Wahrheit unerfahrbar ist …

… dann macht es eigentlich keinen Sinn, recht zu haben oder ueberzeugen zu wollen. Aber muss es nicht so etwas wie Wahrheit, etwas Gleichbleibendes geben, etwas von dem aus Menschen verlaesslich handeln koennen? Dieses Gleichbleibende gibt es, auch wenn es sich anders zeigt, als die absolute Wahrheit, der Philosophen seit Jahrhunderten die Eigenschaften ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. zuschreiben. ‚Gleichbleibendes‘ entsteht naemlich im Zuge alltaeglicher Ereignisse und nicht durch Hoehenfluege metaphysischer Spekulationen.

Alltaeglichen Erlebnissen mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Naturphaenomenen folgen Eindruecke des ‚Gleichbleibenden‘.  Meinem Nachbarn Borowski, meiner Nachbarin Niebuhr, dem Nachbarskind Tanja, dem Hausmeister, dem Postboten … etc. begegne ich immer wieder. Ich erkenne sie wieder, wenn ich auf sie treffe. So erhaelt der Sachverhalt, dass sie vorhanden sind, den Charakter von ‚gleich bleibend‘. Ebenso ist es mit weiter entfernt lebenden Personen, denen ich moeglicherweise seltener begegne. Dass ich sie seltener treffe, beeintraechtigt moeglicherweise. die Staerke meines Eindrucks, die Vorstellung, dass sie gleich bleibend vorhanden sind, verhindert dies aber nicht. Aehnlich verhaelt es sich mit Tieren, Pflanzen und Naturphaenomenen.

Das sich wiederholende Erlebnis, dass ich ihnen immer wieder begegne und sie wieder erkenne, wird zum Anlass, davon auszugehen, dass sie vorhanden sind und zwar auch dann, wenn ich sie gerade nicht sehe. Ich gehe davon aus, dass ich jederzeit auf sie treffen kann. Ich sage dann, Borowski wohnt in Haus Nr. 7, er sieht so und so aus, ist Junggeselle, arbeitet als Busfahrer … etc. Wie fluechtig derart ‚gleich bleibendes‘ ist, kennt jeder aus der Erfahrung, dass die betreffende Person wegzieht, heiratet, arbeitslos wird, auswandert, stirbt … etc. Naturphaenomene wie Fluesse, Meere, Berge, Taeler, Sterne hinterlassen einen staerkeren Eindruck von ‚gleich bleibend‘ bei mir, weil sie u. a. ueber lange Zeitraeume quasi ‚gleich bleibend‘ erlebt werden. So kann ich beispielsweise jahrelang meine Ferien in den Bergen verbringen im Hinblick auf die Vorstellung, bestimmte Berge ‚gleich bleibend‘ wieder zu sehen. An dieser Vorstellung aendert auch nichts der Sachverhalt,  dass auch Berge, Fluesse, Meere, Taeler, Sterne … etc. sich veraendern, Katastrophen z. B. veraendern das Bild von Landschaften. Erdgeschichtlich ist ferner bekannt, dass Erdteile, klimatische Verhaeltnisse und Populationen von Lebewesen verschwinden und durch neue ersetzt werden. Fatalerweise wird den vorgestellten Sachverhalten das Woertchen ‚immer‘ zugeordnet. Obwohl dieses Woertchen auf Nachfrage nur in einem zeitlich begrenzten Rahmen zutreffend ist, bringt die Art des Redens die Sachen doch dem Charakter des ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. naeher. Derartige sprachliche Gewohnheiten unterstuetzen die menschliche Neigung davon auszugehen, dass etwas ‚gleich bleibend‘ vorhanden sei.

David Hume vermutete, dass nach einer Reihe bestimmter, aehnlicher Erlebnisse quasi wie von selber eine Vorstellung von ‚gleich bleibenden‘ Zusammenhaengen entstehe. Er nannte als Quelle dieser menschlichen Eigenart aus aehnlichen Ereignissen auf ‚gleich bleibendes‘ zu schliessen ‚habit‘ bzw. ‚custom‘ je nach dem, ob es sich dabei um etwas individuell oder gemeinschaftlich Erworbenes handelt. [vgl. dazu Humes ‚Abhandlung ueber die menschliche Natur‘ und dort v. a. den 3. Teil des ersten Bandes.] Neurobiologen unserer Zeit verweisen darauf, dass eine Reihe bestimmter, aehnlicher Erlebnisse die Vorraussetzung dafuer ist, um Menschen dazu zu veranlassen zu sagen, dass bestimmte Zusammenhaenge regelhaft und so notwendig sind. Diese Regelhaftigkeiten sind verursacht durch Aehnlichkeiten von Ereignissen und Erlebnissen. „Das ist ganz praktisch, denn die Regeln von gestern gibt es morgen auch noch.“, aeusserte dazu Manfred Spitzer. Er weist so darauf hin, dass ‚gleich bleibendes‘ unserer Erfahrung dem Menschen orientieren ermoeglicht. (Vgl. Manfred Spitzer: Wie lernt das Gehirn? , S. 6. Vortrag. Hier verlinkt.)

Vermutlich also tragen unsere neurophysiologische Plastizitaet und kulturell erworbene Seh-Gewohnheiten dazu bei, dass Menschen Vorstellungen von ‚gleich bleibend‘ entwickeln. Die meisten Menschen sind zu sehr mit ihrer Lebensgestaltung beschaeftigt, als dass sie merkten, in welchem Ausmass sie einzelne, sich aehnlich wiederholende Erlebnisse in ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. ummuenzen und irgendwann ganz selbstverstaendlich behaupten, bestimmte Dinge seien ‚gleich bleibend‘. Es wird vergessen, dass dies nur begrenzt gueltig ist. Diese Neigung fuehrt dann – wenn es um religioese Wahrheiten geht – zu gefaehrlichen Einstellungen und Konsequenzen. In der abendlaendischen Philosophie entwickelte sich daraus der Mainstream ‚Metaphysik‘. Dieser war und ist mit Philosophen bevoelkert, die ‚gleich bleibendes‘ ins Auge fassten und ihr Philosophieren mit entsprechenden Spekulationen zu diesem Ziel hintreiben wollten. Dabei loesten sie ‚gleich bleibendes‘ aus dem Lebenszusammenhang heraus. Sie verabsolutierten eine Eigenschaft. Diese ‚Wahrheitsliebhaber‘ haben sich zwar in der Gegenwart mehrheitlich von der Metaphysik losgesagt. Sie verraten aber durch die verschiedensten Hinweise ihre implizite Neigung dafuer. Am deutlichsten zeigt sie sich, wenn Philosophen dafuer eintreten, dass sie ‚recht haben‘. Philosophische Gespraeche, die vom ‚argumentieren‘ (u. a. ‚beweisen‘) leben, sind dafuer charakteristisch.

Ich behaupte, dass Philosophen, die davon ausgehen, dass die Wahrheit keiner je kannte, noch kennt, noch je kennen wird, nicht recht haben moechten. Sie halten ‚recht haben‘ naemlich weder fuer moeglich, noch fuer nuetzlich. Diese Idee, dass ‚recht haben wollen‘ weder eine philosophische Tugend sei noch dem ‚philosophieren‘ nuetze, hoerte ich vor Jahren zum ersten Mal von dem Philosophen Rolf Reinhold. Er sagt ueber sich, dass ‚recht haben wollen‘ nicht seine Sache sei. In vielen Gespraechen mit ihm seit 2006 habe ich die positive Wirksamkeit seiner Maxime an mir selber erlebt. Reinholds ‚akzeptieren‘ statt ‚argumentieren‘ hat es mir ermoeglicht zu merken, dass mein ‚recht haben wollen‘ nicht nur meinem eigenen Philosophieren im Wege stand, sondern auch meinem Handeln.

Die Wahrheit kannte keiner, noch kennt sie jemand, …

… noch wird sie jemals jemand kennen. (Xenophanes aus Kolophon, ca. 570-480 v.u.Z.)   

Die Grenzen des Individuellen zu akzeptieren, scheint traditionell gepraegten Philosophen nicht zu gelingen. In irgendeiner Art und Weise befinden sie sich immer noch auf dem Weg, Objektives bzw. Wahres  zu entdecken. Dies gilt fuer renommierte Philosophen der Gegenwart genauso, wie fuer viele unbekannte Philosophierende, die sich von deren (Sehn-) Sucht haben anstecken lassen. Taetigkeiten wie ‚verifizieren‘ bzw. ‚falsifizieren‘, Auffassungen wie, es gaebe sowohl eine ‚oeffentliche‘ als auch eine ‚private Sprache‘ zeugen davon.

Ich gehe davon aus, dass dies die Folgen von Entscheidungen sind, die gefaellt wurden, nachdem die christliche Wahrheit vor Jahrhunderten gesellschaftlich verankert worden war. Buecherverbrennungen sowie die Schliessung antiker philosophischer Institutionen markieren diese historisch. Die christliche Wertschaetzung fuer Pythagoras, Platon, Plotin … etc. muendete in die Metaphysik als Charakteristikum der Philosophie. Augustin Thagastes Schrift ‚Ueber die wahre Religion‘ thematisiert diese Entscheidung und damit den hochspekulativen Charakter der abendlaendischen Philosophie. Er verfolgte mit anderen Zeitgenossen die platonisch-plotinische Idee, gemaess der es moeglich sei, Individuelles zu verlassen und jenseits individueller Grenzen Wahrheit zu finden.

Der zetetische oder skeptische, d.h. forschende Charakter vieler griechischer Philosophien der Antike wurde dagegen ignoriert, bzw. sogar so uminterpretiert, als sei Wahrheitssuche schon vor der christlichen Zeit von zentralem philosophischen Interesse gewesen. Aus meiner Sicht handelt es sich hier um einen folgenschweren Irrtum, der nur vor dem Hintergrund christlich-religioeser Beduerfnisse nachvollziehbar ist. Dieser Irrtum machte weitere Entscheidungen unumgaenglich, die schliesslich unter Philosophen u. a. zu einer unuebersichtlichen Begriffsvielfalt fuehrten, die man argumentativ zu beherrschen suchte. Auch heute noch sind Vertreter der Analytischen Philosophie damit beschaeftigt, verbindliche Kriterien fuer ueberzeugende Argumente zu finden. Es wird nicht bemerkt, dass die Praxis ‚recht haben zu wollen‘ eine Folge der oben erwaehnten Entscheidung fuer die Gleichsetzung von Metaphysik mit Philosophie ist.

Ich kann keinen konkreten Anhaltspunkt dafuer finden, dass ich denkend und handelnd meine individuelle Welt verlassen kann. Rolf Reinhold aeussert sich dazu sinngemaess so: „Ich bin meine Welt und sie veraendert sich mit jeder neuen Situation. Es ist mir nur moeglich, Dinge meiner Welt zu betrachten und ueber sie zu reden bzw. zu schreiben. Dinge, das ist das, was ich wahrnehme, besser gesagt ’sensoriere‘ . Ich sehe bzw. fuehle sie und ich gehe davon aus, dass u. a. Sensoren, Gehirn, Organe … etc. an ihrer Produktion – wie auch immer – mitwirken. Mehr als nur minimale Schlussfolgerungen ziehe ich nicht. Ich veraendere sie, wenn sie dysfunktional wirken. Ich moechte mit anderen zusammen handeln, ‚recht haben‘ interessiert mich nicht.“

 Dass auch ich mich derart konsequent beschraenkt sehe, unterscheidet mein ‚denken‘  bzw. ‚philosophieren‘ deutlich von dem anderer. Traditionell gewachsene Kategorien passen nicht mehr. Sie taugen nicht als Instrumente, um ‚physistisch philosophieren‘ so aufzufassen, dass damit ‚anders philosophiert‘ werden kann. . Vor allem akademisch gepraegte Philosophen werden dadurch irritiert. Sie gehen davon aus, dass ’nachdenken‘ bzw.  ‚philosophieren‘ sich  innerhalb von bestimmten historisch gewachsenen Begriffen ( im Geist, im Bewusstsein, subjektiv, objektiv … etc.) vollziehen muss. Ich kann ohne diese ‚Bezeichnungen‘ auskommen, weil ich nichts mehr kenne, was sie ‚bezeichnen‘ koennten. Ich habe ihnen jahrzehntelang nachgespuert und ich bin nicht fuendig geworden. Insofern sind sie fuer mich nur „Lautzeichenfolgen“ (Rolf Reinhold) bzw. „Lippengeraeusche“ (Axel Brauns). Traditionell gepraegte Philosophen glauben, damit auf etwas (Substanzielles, Vorhandenes, Seiendes) verweisen zu koennen. Die physistische Sicht, die Dinge zu sehen, ergibt  Kommunikationsstoerungen, die nur durch viele Erläuterungen zu beheben sind. Rolf Reinhold äußert sich auf seinen Seiten dazu in ähnlicher Weise. ‚Sowohl mein Beratungsangebot als auch mein ‚philosophieren‘ sind extrem erläuterungsbedürftig.‘

‚Ich moechte Autoritaeten und bereits beschrittene Wege verlassen. Ich moechte das, was sich fuer mich ergibt, zum Thema machen.‘ So äusserte sich auch schon David Hume.  Meine eigenen Wege sind fuer mich relevant und ich moechte mich mit anderen mit Blick auf die Sache darueber austauschen. Das wünschte sich auch schon George Berkeley. Wie Reinhold, Hume und Berkeley verspreche ich mir davon Anregungen fuer mein ‚philosophieren‘.

 

 

         

Individuelles ueberschreiten I



Kann man die Dinge auch mit den Augen anderer sehen?

Menschen gehen davon aus. Menschen meinen z.B., sich in andere einfuehlen zu koennen: „Ich weisz, was in dir vorgeht.“ Muetter halten sich zu Gute, ihre Kinder zu kennen. Lehrer glauben zu wissen, wie jeder ihrer Schueler am effektivsten lernen. Liebende gehen davon aus, ein Herz und eine Seele zu sein. Auch Wissenschaftler gehen davon aus, den Beweis dafuer erbracht zu haben, dass ein Individuum wissen kann, was ein anderer empfindet: Sie haben die Spiegelneuronen entdeckt.

Menschen, die davon nicht ausgehen, gelten zumindest als soziale Grobiane, werden als gefuehlskalt, … etc. bezeichnet. Manche gehen so weit zu behaupten, dass diesen Menschen eine wichtige menschliche Faehigkeit fehle. Derartige Selbstverstaendlichkeiten und derart Weitreichendes macht es aus meiner Sicht noetig, dem Empathischen, d.h. dem Einfuehlsamen auf den Mund zu schauen: Wovon ist hier die Rede?

Im Wesentlichen duerfte es um Kommunikation gehen.

Ich gehe davon aus, dass Kommunikation mit der Benutzung von Zeichen (Gesten, Mimik, Woerter, Stimmfaerbung, … etc.) zu tun hat, die in Menschen etwas ausloesen. Bereits im Uterus sind Menschen Zeichen der Umgebung ausgesetzt. Worauf diese Zeichen verweisen, lernt der Mensch ueberwiegend extrauterin.

Mit ungefaehr einem Jahr beginnen Menschen Woertern etwas Bestimmtes zuzuordnen. Sie fangen an zu sprechen. Mit durchschnittlich 5/6 Jahren ist das Bestimmte, auf das ein Wort hinweist, im Bereich des Konkreten so weit von Menschen erforscht, dass andere mit ihnen reden koennen. Andere Zeichen als Woerter werden nachrangig. Bis dahin gibt es viele Irrtuemer, die dem Herausfinden des Bezeichneten dienen. Auf diesem Weg begegnen Menschen auch Zeichen, bei denen es nicht gelingt herauszufinden, was damit bezeichnet wird. Es sind Abstraktionen, Metaphorisches. Deren Erforschen dauert länger.

Was steht wofür?

Grundlegende Erfahrung aus diesen ersten Lebensjahren ist also: Wenn ein Menschen mit anderen reden moechte, muss er fuer sich selber herausfinden, was es mit den Zeichen auf sich hat, die die anderen benutzen. Das Reden ueber Dinge orientiert sich dabei am Konkreten, das ein Mensch kennt: Katze, Tisch, gehen, lachen, blau, gruen … etc. In diesem Rahmen gibt es selten Unklarheiten zwischen Menschen; es sei denn es liegen sensorische Beeintraechtigungen vor (z.B. Seh- oder Hoerdefizite).

Reden ueber Dinge, die man nicht kennt, reden ueber Abstrakta, Metaphorisches oder ueber das, was in anderen Menschen vor sich geht, wird unklar, weil das damit Bezeichnete nicht gemeinsam betrachtet werden  kann. Um zu erlaeutern, was ich meine, wenn ich das Wort ‚Liebe‘ verwende, muss ich mehr Woerter benutzen. Die Kommunikation wird unuebersichtlich. Menschen haben eventuell deshalb den Gebrauch des Wortes „verstehen“ erfunden. „Aha, ich verstehe, was du meinst!“ oder „Verstehst du mich?“ „Ich verstehe!“ beendet die Kommunikation ueber ein bestimmtes Thema. Mir fiel schon oft auf: Je besser Menschen sich verstehen, desto weniger scheinen  sie sich zu sagen haben. Aber dies nur nebenbei.

Was folgt daraus fuer die Eingangsfrage? 

Erst einmal nicht viel.
1. Von Geburt an ist der Mensch damit beschaeftigt zu kommunizieren und dazu muss er fuer sich immer wieder herauszufinden, worauf Zeichen hinweisen.
2. Der Mensch orientiert sich dabei an konkreten Dingen.
3. In der Kommunikation ergibt sich fuer ihn, ob er Zeichen korrekt entschluesselt hat.

Die Untersuchung wird fortgesetzt.

Individuelle Sichten



„Die Dinge sind für mich so, wie sie sich mir zeigen, und für dich so, wie sie dir sich zeigen.“ Und so ist „der Mensch das Maß aller Dinge“

Das Altgriechische ‚chremata‘ des Homo-Mensura-Satzes, den die Quellen Protagoras zuschrieben, hat eine aehnlich weitreichende Bedeutung, wie das deutsche Wort ‚Dinge‘, mit dem es wiedergegeben wird. ‚chrema‘ bezeichnet: „Alles, womit der Mensch hantiert, womit er etwas anfangen, was er zu seinen Zwecken gebrauchen kann, oder auch womit er zu schaffen, zu tun hat. in diesem Sinne Sache, Ding, Stueck, Ereignis, Erscheinung, Vorfall, Geschaeft. Im Besonderen heißt bald der Mensch selbst ‚chrema‘ : Ding, Geschoepf, ein Wunder (von Frau) . Im Plural erscheint ‚chremata‘ als Sammelbegriff für Habseligkeiten, Hab und Gut, Sklaven, Herden Jagdtiere… Vermoegen, Leben, Macht, Machtmittel … etc.“ steht in der digitalen Version von Papes griechisch-deutschem Woerterbuch. Dem verbalen Stammwort ‚chraomai‘ – im Altgriechischen sind Substantive fast immer Ableitungen des Verbs – entsprechen Terme wie  „… eine Sache, sich zu Eigen machen, auch leihen. In Bezug auf Goetter verehren, sie als Gottheit annehmen, mit ihnen verkehren, sie befragen. Mit eigenen Anlagen, Kraeften verfahren, ihnen gemaeß handeln. sie benutzen, zeigen. Gesetze befolgen, einhalten. Zustaende, Gefuehle empfinden, mit ihnen zu tun haben; sich in Umstaende zu schicken wissen, den Staat verwalten; mit gegebenen Verhaeltnissen umgehen; mit Kuensten, Wissenschaften, Gewerben hantieren; kaufen, verkaufen; …“

Aus allen diesen moeglichen Uebersetzungen laesst sich schließen, dass der Homo-Mensura-Satz sich auf alle Lebensbereiche bzw. auf unser gesamtes Verhalten bezieht – auch im Hinblick auf den Menschen selber. Er koennte auch heißen: „Was immer der Mensch tut, er tut es auf seine Weise.“ Oder: „Individuelles ist unhintergehbar“. Dieses Grundprinzip menschlichen Verhaltens duerfte im Alltag des antiken Griechenland und auch unter Wissenschaftlern (Sophoi, Sophisten und Philosophen) allgemein akzeptiert gewesen zu sein. Es zeigte sich m. E. in den offen endenden platonischen Dialogen oder in den miteinander konkurrierenden Philosophien oder im Wechsel unterschiedlicher Regierungsformen und politischen Entscheidungen oder in den unterschiedlichen Sichtweisen oeffentlicher Reden … etc. Individuelles wurde durch gemeinsam geteilte kulturelle und religioese Traditionen und Gesetze begrenzt. Die Verletzung des traditionellen Goetterglaubens war todeswürdig. Trotzdem war niemand „… an ein heiliges Recht gebunden waren, welches Religion und Staat zusammenkettete, … kein Klerus in Art der aegyptischen Priester, der Magier und Chaldaeer … war [vorhanden], welcher … im Namen einer vorhandenen, einzig berechtigten Lehre unterdruecken konnte.“ [Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte: Achter Abschnitt. Zur Philosophie, Wissenschaft und Redekunst, S. 97. Digitale Bibliothek Band 55: Geschichte des Altertums, S. 10692] Diese Lehre, die unterdrückt, gab es für unseren Kulturkreis erst mit der Verbreitung des Christentums in Europa. Mit ihm ist m.E. das von den Griechen praktizierte Naturprinzip des Individuellen zugunsten behaupteter Wahrheit und richtiger Moralitaet nachhaltig verdraengt worden.

Gewissheiten und ‚letzte Gruende‘



Unter den ersten Huetten, die Menschen sich bauten, waren solche, die auf Pfaehlen standen. Diese Konstruktion diente vermutlich dem Schutz vor Gefahren. Solange die Pfaehle hielten, konnten sie mehr oder weniger lange Garanten dieses Schutzes sein.

Gewissheiten werden erworben

Aehnlich duerfte es sich mit Gewissheiten verhalten, die Menschen fuer sich erfinden. Ich denke, Menschen brauchen Gewissheiten, nur scheinen sich Menschen in der Regel nicht darueber im klaren zu sein, wie es sich mit Gewissheiten verhaelt, bzw. wie es um die jeweilig eigenen bestellt ist. Gewissheiten scheinen ‚mit der sich wiederholenden Abfolge aehnlicher Ereignisse‘ (David Hume) zu entstehen. Sie beruhen also auf Vergangenem, sind ‚Setzungen aus Erfahrung‘ (Rolf Reinhold) und koennen daher nur eine probabilistische Sicherheit bieten. Ein anderer Schutz als dieser scheint uns Menschen nicht zur Verfuegung zu stehen.

Inzwischen erlaeutern Neurowissenschaftler: Sich aehnlich wiederholende afferente Ereignisse und ihnen folgende efferente Ereignisse ergeben mit der Zeit bestimmte neuronale Aktivitaetsmuster. Durch diese quasi regelgeleitete Arbeitsweise wird unsere organische Effizienz optimiert. Dies laesst sich u.a. an allen unseren motorischen Faehigkeiten (Bewegungen einschließlich Sprache=’handeln‘) ablesen, die jeweils erworbene Aktivitaetsmuster voraussetzen. Der Erwerb solcher Aktivitaetsmuster ist u.a. an Zeit und Wiederholung gebunden. Feststellbar ist aber auch, dass neuronale Aktivitaetsmuster durch optimierte ersetzt werden koennen. Unter Leistungssportbedingungen genuegt es z.B. nicht, die ueblicherweise erworbenen Bewegungsablaeufe einzusetzen. Bewegungsablaeufe muessen veraendert werden, wenn jemand im Wettbewerb mit anderen mithalten moechte. Die Veraenderung erfolgt ueber Reflektion der eigenen Bewegungsablaeufe unter Einbeziehung sportwissenschaftlicher Forschungsergebnisse und dem Trainieren veraenderter Bewegungsablaeufe.

Gewissheiten aendern sich

Menschen leben mit vielen Gewissheiten, meistens ohne damit zu rechnen, dass Gewissheiten, wie alles im menschlichen Leben Veraenderungen unterworfen ist. Auch unsere pfahlhuettenbauenden Vorfahren duerften erlebt haben, dass Holz im Wasser stehend seine Stabilitaet verliert. Die Gewissheit, dass die Waende eines Hauses stabil seien, wird kontrastiert durch die Tatsache, dass fast unmerklich, aber dennoch kontinuierlich der Putz von den Waenden rieselt. Wollmaeuse weisen darauf hin, dass Stoffe und Tapeten Fasern, Gegenstaende aller Art kleinste Teilchen verlieren. Die Dinge nutzen sich ab. Reparaturen oder gar Neuanschaffungen werden noetig.

Unser Koerper ist vielfaeltigen Veraenderungen unterworfen. Belege dafuer koennen sein, Hautteile, Schuppen, die sich in Matrazen, im Badewasser und in Kleidungsstuecken wiederfinden. Wir altern. Hunger, Durst, Muedigkeit signalisieren Veraenderungen. Der Gewissheit: Ich bin jetzt satt, folgt die Gewissheit: Ich habe Hunger. Wir beschließen den Tag mit der Gewissheit fuer heute genug getan zu haben, um am naechsten Morgen mit der Gewissheit aufzustehen, dass es noch viel zu tun gibt. Die Gewissheit, dass eine bestimmte Dienstleistung von einem ganz bestimmten Betrieb angeboten wird, muessen wir aufgeben, wenn dieser Betrieb schließt.

Beton in den Städten, Tomaten auf den Augen und Bohnen in den Ohren?

Waehrend wir den Verlust alltaeglicher Gewissheiten in der Regel – gelegentlich unter Unmutsbezeugungen akzeptieren – gibt es eine Art von Gewissheiten, die wir nur schwer oder gar nicht aufgeben moechten oder koennen. M.E. handelt es sich dabei um die Gewissheiten, mit denen wir am laengsten vertraut sind. Menschen neigen dazu an lang vertrauten Gewissheiten auch gegen andersartige Ereignisse festzuhalten. Je geringer die Anzahl der Ereignisse ist, die einer bestimmten Gewissheit entgegenstehen, desto leichter scheint dies zu gelingen. Der bekannte Spruch: „Die Ausnahme bestaetigt die Regel!“ kann fuer derartige Konstruktionen stehen. Man bezeichnet dies als „Nicht-Wahrhaben-Wollen“. Max von der Gruen beschrieb in seinem Buch „Wie war das eigentlich?“ ueber seine Kindheit und Jugend im Dritten Reich das Phaenomen, dass die Menschen oft bemerkten, wenn sie von Graeueltaten hoerten: „Wenn das der Fuehrer wuesste!“ Er bewertete dies als Flucht aus der Verantwortung und Ergebnis einer geschickten Progaganda. Im augenblicklichen Zusammenhang dient mir dieses Phänomen außerdem zur Vervollstaendigung der Betrachtung menschlichen Verhaltens an teuren Gewissheiten festhalten zu wollen. Der Wert des einmal Gefassten wirkt kontraproduktiv auf unsere lebensnotwendige Faehigkeit adaequat zu denken und zu handeln. Der Asphalt unserer Staedte, der Beton unserer Gebaeude macht die zivilisierte Scheinwirklichkeit fundamental. Erst Naturkatastrophen – Verbrechen und Kriege in aehnlicher Weise – wecken das Grauen vor dem Verlust unserer Gewissheiten.

Verwandeln von Gewissheiten in Annahmen und Praesenz

Menschen duerften den Blick fuer die Realitaet verlieren, wenn sie an Gewissheiten unbeirrt festhalten moechten. Letzteres praegt aus meiner Sicht das Schicksal Einzelner und ganzer Kulturen genauso wie das Schicksal von Metaphysikern, die sich als Philosophen bezeichnen, aber laengst den menschlichen Boden unter ihren Fueßen verloren haben, waehrend sie aus alter Gewohnheit nach letzten Gruenden, also nach unwandelbaren Gewissheiten suchen. Dass wir ueber derartige Vorhaben nicht mehrheitlich in schallendes Gelaechter ausbrechen, duerfte ein Indiz dafuer sein, wie nah vielen von uns das Beduerfnis nach letzten Gewissheiten sein duerfte. Metaphysiker gehen beispielhaft voran: Sie stuerzen sich denkend in Abgruende, woraus sie sich in den quasi-religioesen Glauben ihrer Erkenntnisse retten. Menschliches Leben aber kann nicht mehr als voruebergehende Gewissheiten schaffen. Um unser ‚handeln‘ adaequat vollziehen zu koennen, scheinen mir kurzlebige Gewissheiten voellig ausreichend. „Jeder Schritt ist der erste!“ lautet ein Koan aus Rolf Reinholds Philosophie. Gewissheiten sind ihm unbekannt. Er geht konsequent von Annahmen aus. Mein lange verstorbener Metaphysiklehrer meinte: „Es kommt auf die Gegenwart an.“ Gegenwart war fuer ihn jeder einzelne, kleinste Jetztpunkt (Augenblick) einer langen Reihe von Jetztpunkten und einzig wirkliche Ort menschlichen Handelns und Nachdenkens, der sich beim Tun verfluechtigt.

Zur Erkenntnistheorie


Erkenntnistheorien sind geschlossen

Einer meiner Tuebinger Philosophieprofessoren fragte mich vor Jahrzehnten: „Muss man nicht neurotisch sein, um auf die Idee mit dem Ding an sich zu kommen?“ Damals irritierte mich die Frage und ich erinnere mich, dass ich sie mit Erkenntnistheorie beantwortete und damit auch abwehrte. Die Frage liess mich aber unterschwellig nicht mehr los. Immer oefter stiess ich mich daran, dass erkenntnistheoretische Aussagen auf sich selber verweisen, bzw. auf den logischen („richtigen“) Zusammenhang ihrer Erkenntnisse. Ein geuebter Erkenntnistheoretiker duerfte sich daran nicht stoeren, sondern er wird diesen Sachverhalt wahrscheinlich als selbstverstaendlich betrachten. Diese rueckbezuegliche Geschlossenheit von Theorien wird je nach dem auch in anderen Wissenschaften praktiziert. Doch keine andere verfolgt das Projekt Erkenntnistheorie so wie die Philosophie es tut. Philosophen gehen weiter „….als jede andere Wissenschaft, indem sie auch ihr eigenes Rechtfertigungsverfahren selbst rechtfertigen … , bis auf die ‚letzten Gruende‘ zurueckzugehen …“ Albert Keller: Allgemeine Erkenntnistheorie. Stuttgart (Kohlhammer) 2006, 3. Aufl., S.58.)
Das komplexe Gebilde ‚Erkenntnistheorie‘ eine Bezeichnung die erst nach Kant im 19. Jahrhundert gebraeuchlich wurde – wurde mir bereits im ersten Semester meines Studiums neben der Ontologie als eine Grundlagenwissenschaft der Philosophie vorgestellt. Es wurde behauptet, dass bereits die ersten griechischen Philosophen Erkenntnistheorie betrieben haetten. Philosophen, die sich von dieser Grundlagenwissenschaft verabschiedet hatten, schieden aus dem Club der ‚richtigen‘ Philosophen aus.
Will also ein Philosophiestudent ein (amtlich anerkannter) Philosoph werden, wird er um erkenntnistheoretische Fragestellungen nicht herumkommen. Die noch heute eher Metapyhsik als Philosophie lehrende universitaere Dissiplin fungiert als eine Art ‚Lordsiegelbewahrer‘.

Erkenntnistheorie ist überflüssig

Aus meiner heutigen Sicht ist Erkenntnistheorie ueberfluessig, weil sie ausser ‚preisend mit viel schoenen Reden‘ nichts zur Weiterentwicklung des ‚philosophieren‘ beitragen kann.
Aus meiner Sicht ergibt sich dieses Urteil vor allem daher, dass sie

  1. ‚erkennen‘ mit ‚wissen‘ gleichsetzt.
  2. stillschweigend davon ausgeht, dass Koerper und Geist(-Seele) substantiell unterscheidbar seien.
  3. außerdem ungeprüft davon ausgeht, dass ‚denken‘ unser ‚handeln‘ steuert.
  4. die eigenen Annahmen und Behauptungen fraglos als ERKENNTNISSE verwendet und auf diese Weise WISSEN sugeriert.

Erkenntnistheorie verhindert Weiterentwicklung der Philosophie

Erkenntnistheorie ist mir nicht gruendlich genug. Sie verlaesst und bezieht sich allzusehr auf die Autoritaet altvorderer Aussagen. Ihr eigener Anspruch, dass ‚denken‘ im Unterschied zum ‚tun‘ den Mehrwert der Theorien vor der Praxis ausmache, wird so weder eingeloest noch wirksam. Erkenntnistheoretiker denken im Rahmen der Tradition. Sie ueberschreiten und hinterfragen ihn nicht. Sie koennen ihn vermutlich weder ueberschreiten noch hinterfragen, weil ihre akademische Sozialisation die uebernahme traditioneller Denkwege verlangt. Es tut weh, Vertrautes und Gewohntes zu befragen oder es gar zu verlassen.

Fuer mich ist ‚erkennen‘ der gehorsame Vollzug von ‚urteilen‘ und ‚bewerten‘ im Kontext allgemeiner kultureller Sichten und Werte. Der bis heute selbstverstaendliche Gebrauch von Kants Transzendentalphilosophie und Vernunftauffassung duerfte meine Behautpung bestaetigen koennen. Dies hatte bisher zur Folge, dass Andersdenkende fuer weitere Generationen marginalisiert wurden.
Fuer mich ist ‚Geist‘ bzw. das ‚Denken‘ ein Buch mit sieben Siegeln, obwohl ich Jahrzehnte damit zubrachte ‚Geist‘ und reflexionsphaenomenologische Ueberlegungen zu erforschen. Ich meinte lange Zeit, ich wuesste, was Geist sei.
Folgendes kapiere ich nicht im Hinblick auf das Wissenschaftsverstaendnis der Philosophie: Im Hinblick auf tradtionelle theoretische Auffassungen (Erkenntnisse!) werden Aussagen und Forschungsergebnisse anderer Humanwissenschaftler abgewertet oder gar nicht zur Kenntnis genommen. Seit mehr als 50 Jahren darf es unter Humanwissenschaftlern als ziemlich gesichert gelten, dass unser ‚handeln‘ vor allem von unserer neurophysiologischen Natur gesteuert wird. Auch darueber gibt es innerhalb der Philosophie kaum Diskussionen und keine Konsequenzen fürs ‚philosophieren‘.
Möglich wäre darüber folgendes zu sagen: „Es gibt eine Erinnerungskultur der Bearbeitung von Erinnerungskultur, eine … verbreitete leise Begeisterung für die Konstrukteure von Bibliotheken, welche es uns heute ermöglichen, mit Neugier immer wieder anders durch die Regale zu jagen und aus den verstummten Stimmen der Frühzeit gedruckten Wissens unsere eigene intellektuelle Existenz lebendig zu erhalten.“ Ulrich Johannes Schneider: Anmerkungen zur Geschichte der Gelehrsamkeit. In: Friedrich Vollhardt: Historia literaria. Berlin (Akademie) 2007, S. 265ff.

Annahmen und ’nachdenken‘

Ich moechte philosophierend ’nachdenken‘ praktizieren, das sich auf ‚handeln‘ und dessen Erfordernisse bezieht. Erkenntnistheorie betrachte ich deshalb als eine von vielen Spekulationen, die erklaeren moechten, wie die ‚Welt uns bewusst‘ wird. Ich habe darauf verzichtet, darueber nachzudenken, weil ich dies fuer eine seit Jahrhunderten unbeantwortbare Frage halte. Zur Zeit sehe ich keinen Anlass davon auszugehen, dass es darauf jemals eine nachvollziehbare Antwort wird geben können. Hier folge ich gern meinem alten Lehrer Augustin Thagaste, der dies auch so sah. Ich stelle lediglich fest, dass ich sensoriere (empfinden), handle und nachdenke. Ich stelle fest, dass es nützlich ist, anstatt von Erkenntnissen von Annahmen auszugehen, um so in unterschiedlichen Situationen moeglichst optimal handeln zu koennen. Annahmen finde ich durch ’nachdenken‘.
Die Entscheidung gegen die Erkenntnistheorie fiel bei mir auch im Kontext der alltaeglichen Schulpraxis mit ungeeigneten schulischen Lerntheorien, die Lehrer in der Scheinsicherheit wiegen, dass sie wuessten, wie Schueler ‚richtig‘ lernen. Mein Resuemee: Schulische Lerntheorien entstanden in der Nachfolge erkenntistheoretischer Spekulationen. Ich halte sie für unbrauchbar.