Batailles heterogenes ‚philosophieren‘

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Philosophie zu einer ganz bestimmten Philosophie verfestigt. Ihre Vertreter sehen sich als Hueter eines Denkens, das sie als abendlaendisch charakterisieren. In der Gegenwart kann man lesen, dass es in der Philosophie vor allem um Begriffe (Wolfgang  Roed) geht oder um den Geist (Ansgar Beckermann) oder um die Sprache (Analytische Philosophie) geht. Alle diese Philosophen philosophieren rueckwaertsgewandt: Sie gehen davon aus, in einer Tradition zu stehen, die ihnen die Mittel fuer ein ‚richtiges‘ Philosophieren zur Verfuegung stellt und die es ihnen ermoeglicht, philosophische Texte angemessen zu interpretieren. Bei meinen philosophischen Forschungen vor allem ueber Hume, Berkeley und Bacon, aber auch Mach, Wahle und Mautner ist mir immer wieder aufgefallen, dass Philosophen so etwas wie eine im Studium erworbene Lesebrille aufhaben und nur noch das in Texten finden, was diese Brille ihnen sichtbar macht. So z. B. bei Hume, dem eine neue Kausalitaetstheorie zugeschrieben wird, waehrend er davon ausgeht, dass die angeblich beobachtbare Kausalitaet eine Folge menschlichen Verhaltens ist, die er als Gewohnheit bezeichnet. Es freut mich, wenn z. B. Poststrukturalisten mit Neuem experimentieren.

„Wie kann sich einer ausdruecken, der die Philosophen zum Schweigen bringt, wenn nicht auf eine Art, die sie nicht begreifen?“ (Bataille: Anmerkungen zum Vorwort zu Madame Edwarda (1941). In: Das obszoene Werk. Hamburg 1972. S. 62.) Dies ist das Dilemma eines Philosophen, der auszerhalb der universitaeren Philosophie philosophiert. Hume’s Rezeption hat sein praktizierter konformer Sprachgebrauch nichts genuetzt. Haeufig wurde und wird sogar beklagt, dass er viele Worte um ’nichts‘ mache, waehrend er erlaeuterte, was er sich bei seinen Worten dachte. Die Frage, ob viele Philosophen ueberhaupt begriffen haben, was Hume thematisiert, wird nicht gestellt. Dies frage ich mich bei Batailles Rezeption auch des öfteren.

Bataille stellte aehnliches fest und „… wirft der traditionellen Philosophie vor, dass sie … Grenzerfahrungen, wie sie etwa in der Erotik oder in Rausch- und Traumzustaenden gemacht werden, ausschlieszt. Er bezweifelt die Berechtigung solch eines Philosophierens, ‚das den intensivsten Gemuetsbewegungen fremd gegenuebersteht‘. Bataille sieht im herkoemmlichen philosophischen Diskurs den Ausdruck der ‚profanen, homogenen Welt‘, … .“  Nikolaus Halmer

Die homogene Philosophie, wie die homogene Kultur überhaupt, weigert sich, das mit einzubeziehen, was ihr fremd, d.h. heteronom zu sein scheint. Bataille entwarf eine Allgemeine Theorie der Oekonomie, das Zusammenspiel von Homogenem und Heteronomem wirksam im Interesse aller Menschen, die Gegenstand des philosophischen Gedankenaustausches sein könnte .  Die gegenseitige “ … Befriedigung von Beduerfnissen … spielt eine bedeutende Rolle im Leben. … [es] liegt etwas Unheimliches in der Verachtung, die die deutsche Ethik zugunsten eines ‚unbefleckten Idealismus‘ ueber dieses pragmatische Denken ausschuettet. Der kategorische Imperativ Kants rufe bei ihm – so Dewey bereits 1914 – das Bild eines Kasernenhof-Korporals wach. (Dewey: Deutsche Philosophie und deutsche Politik. Wien/Berlin 2000, S.112f.)

Bataille machte sich zum Fuersprecher menschlicher Beduerfnisse, ungeachtet der Tatsache, ob sie akzeptiert oder verfemt wurden. Er war in einer Welt aufgewachsen, in der das Verfemte und seine Folgen wie die Syphilis seines Vaters, sowie der Tod, sein Erschrecken und Gewalt zum Alltag gehoerten. Dies schloss die Batailles von der homogenen Kultur aus. Es nuetzte ihnen nichts, sich um Akzeptanz zu bemuehen. Erst die surrealistische Bewegung hat es dem juengsten Bataille ermoeglicht, mit Einschraenkungen „dazu zu gehoeren“.

Bataille verwirbelt die Namen

Der Surrealismus ist eine „universelle Revolte … in der sich, George Bataille zufolge, zugleich der tumultuarische Geist einer ganzen Generation reflektiert. … diese hat auch die Themen und Formen vorgegeben, die selbst unseren Protest heute noch determinieren, bis hin zur Studentenrevolte, ja, sogar noch darueber hinaus. Am Ende des 20. Jahrhunderts scheinen wir immer noch an jenem Punkt zu stehen, der durch den Surrealismus an seinem Beginn bezeichnet wurde. Und darin liegt zugleich seine unverminderte Aktualitaet. Darin manifestiert sich … auch seine geschichtsphilosophische Besonderheit …“*

Derart ausgedehnte Charakterisierungen der surrealistischen Bewegung sind in der juengeren Literatur anzutreffen. Weltweit werden surrealistische Ideen in Literatur, Philosophie, Theater, Film. Poesie und bildnerischer Kunst diskutiert und dargestellt. Nach meinem bisherigen Eindruck war Bataille auf eine Weise surrealistisch, die etwas neben der Idee ueblicher surrealistischer Erfindungen lag. Er erfand surrealistische Vorstellungen, die nur aus seiner Lebenserfahrung hervorkamen und die neue Sichten auf einen unbekannten Bios bzw. „heteronome“ Lebenswerte in Aussicht stellten.

Folgt man Bezeichnungen wie ‚Revolte‘, ‚tumultuarischer Geist‘, dann koennte man schlussfolgern, George Bataille sei ‚ein Rebell‘ gewesen. Aber auch ‚Exkrementenphilosoph‘, ‚paradoxe Philosophie‘, ‚obszoene Texte‘, … etc. werden ueber ihn und sein philosophierendes Schriftstellern gesagt. Klassifizierende Interpretationen geben einen engen, ‚homogenen‘ Raum fuer Interpretationen vor, die Batailles offenem, ‚heterogenem‘ Schreiben Grenzen setzen. Zusaetzlich sind seine eigenen Namensgebungen fuer Zusammenhaenge und Sachverhalte fuer jeden Leser interpretationsbeduerftig. Das gilt zwar fuer jedes Lesen von Texten anderer, aber Bataille’s Texte signalisieren das mit anstoeszigen Merkmalen. Im Erfinden von Interpretationen schlussfolgern alle Interpretatoren immer wieder begrenzt zu sein. Eigene Aeuszerungen werden auszerdem als viel zu enges Haus empfunden. Mir geht es nicht anders. Dabei entsteht Lachen ueber eigene Reflexionen und über das, was durch Fremdes angeregt wird. Auf diese Weise bekomme ich eine vage Vorstellung von dem, was mich an Bataille fasziniert. Sie umfasst Spielerisches, moegliche Unmoeglichkeiten und Naives. Philosophische Probleme sind blosz laecherlich, meinte der skeptische Hume. Das stimmt!

Vertreter der surrealistischen Bewegung hatten und haben den Wunsch, neue Ausdrucksmittel zu erfinden. Neue Woerter und Metaphern gehoerten zu ihren Arbeitsgebieten, genauso wie neue bildnerische und musikalische Ausdrucksmittel. Bataille hat sich damit hervorgetan, neue Bedeutungen zu erfinden, indem er bekannte Termini in einen neuen Kontext rueckte. Das tut eigentlich jeder irgendwie, aber es werden – vor allem unter Philosophen – selten Konsequenzen daraus gezogen. Batailles Bedeutungsvarianten sind durch seine Reflexion innerviert, i. S. v. mit sensorischen Reizen versorgt und haben ihn zu weiteren Aeuszerungen angeregt. Sie wirkten und wirken auf den Leser in aehnlicher Weise. So verändern sie.

Im Folgenden erlaeutere ich an dem Wort EXZESS, das was ich gerade behauptet habe.
Mit Exzess wird ueblicherweise Maszlosigkeit und Ausschweifung bezeichnet. Beide Bedeutungsvarianten sind negativ besetzt. Menschen, die maszlos und ausschweifend leben, werden moralisch abgewertet. Es sind Menschen, vor denen Eltern ihre Kinder warnen, weil man ihnen alles zutraut, blosz nichts Gutes. Doch  „Das Gute ist die Heuchelei.“**, meinte Bataille, weil niemand sagen kann, was ‚das Gute‘ ist. Menschen tun so, als ob sie ‚wissen‘, was gut ist. Menschen leben aber tatsaechlich ihren Beduerfnissen gemaesz. Theorien fungieren als Schutzschilde. Menschen finden es erfuellend, sich in der Erotik einem anderen auszuliefern, sich ihm hinzugeben, sich an ihn zu verschwenden: Das nennt Bataille Exzess bzw. exzessiv. Exzessiv laesst sich ferner so denken, wie Bataille denkt: „Ich denke wie ein Maedchen, das sein Kleid hochhebt.“ *** Excessiv bezeichnet auszerdem ein biologisches Prinzip. Der Mensch verausgabt sich bis zum Tode. Lebensaeuszerungen ueberschwemmen den Menschen, z. B. in der Sexualitaet, im Lachen, in der Angst, im Schrecken, in der Freude … etc. Dies entspricht wiederum einem kosmischen Prinzip: Die Sonne verausgabt sich gegenueber der Erde, ohne etwas dafuer zu erwarten: „Das authentische Boese kennt keine Selbstsucht.“**

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 *Rita Bischof: Teleskopagen, wahlweise: der literarische Surrealismus und das Bild. Frankfurt/Main 2001, S. 52.
** Bataille alias Louis Trente: Der Kleine. (Le Petit) 1943, postum 1963 erschienen, In: Das obszoene Werk. Hamburg 1977, S. 173.
** *Ders., Méthode de méditation, S. 200, hier zit. nach Boelderl, S.4. Zu dem Behaupteten vgl. den ganzen Abschnitt ebd. S.3f.

Wer sich im Besitz der Wahrheit glaubt, …

moechte ‚recht haben‘, moechte ‚beweisen‘, dass nur seine Sichtweise die ‚richtige‘ ist. Gegen andere Sichtweisen muss er sich verwahren. Skeptische Philosophen koennen Irrtuemer einraeumen. Sie gingen und gehen davon aus, dass ‚richtig‘ und ‚wahr‘ Kriterien sind, ueber die niemand verfuegt – auch sie nicht. Fuer Skeptiker ist ‚recht haben wollen‘ und ‚beweisen wollen‘ eine Art Sackgasse. Fuer sie folgt aus ihrer skeptischen Praxis des Hinsehens, ’sich eines abschlieszenden Urteils zu enthalten‘. Jedes Hinsehen ergibt in aller Regel immer wieder einen neuen, bzw. etwas anderen Aspekt, auch wenn der neue sich nur minimal von dem Vorhergehenden unterscheidet. Diese durch Hinsehen entstehende Vermehrung von Unterschieden macht die Differenziertheit und die Qualitaet von Sichtweisen aus, die jeder autonom erheben kann. Dies zeigen z. B. Aeuszerungen von Menschen ueber die unterschiedlichsten Lebensbereiche, in denen sie professionell taetig sind bzw. waren.

Der Rat ‚immer wieder hinzusehen‘ fuehrte bereits in der Antike zu Missverstaendnissen. Viele Zeitgenossen des Pyrrhon – allen voran die Stoiker – stieszen sich an der Idee der Enthaltung und unterstellten dem, der dieser Idee folgte, dass er lebensuntuechtig sein muesse. Sie gingen zurecht davon aus, dass jeder Mensch handeln muss. Sich eines Urteils zu enthalten, schien ihnen unmoeglich. Dies entspricht durchaus dem, was skeptische Philosophen sowie Neurowissenschaftler inzwischen annehmen: „Unsere physiologische Natur bestimmt nach Gesetzmaeszigkeiten, die wir nicht kontrollieren koennen, dass wir gar nicht anders koennen, als Urteile zu faellen, so wie wir automatisch atmen und wahrnehmen“ (Hume Treat. I,4,1,7.) Daraus zu folgern, dass die Notwendigkeit des momentanen ‚handeln‘ und ‚urteilen‘ dauerhafte Urteile notwendig mache, ist das seit Jahrhunderten gebraeuchliche explizite und implizite Missverstaendnis, das Skepsis abwehrte, sie ungeeignet fuers Philosophieren hielt und Skeptiker der Laecherlichkeit preisgab. Ueber den in vielen Feldzuegen erprobten Pyrrhon wurde u. a. die Laecherlichkeit erzaehlt, dass er nur in Begleitung einer Magd sein Haus verliesz, um wieder nach Hause zu finden. Menschenwissenschaftler unter den Philosophen – wie Hume – bemuehten sich ohne groszen Widerhall darum, dieses Missverstaendnis auszuraeumen: „Niemand duerfte je einen so laecherlichen Menschen getroffen oder mit einem verkehrt haben, der handelnd oder forschend keiner Vorstellung bzw. keiner Annahme ueber das gefolgt waere, was er zu erreichen hoffte.“ (Hume, Enquiry, XII, 2.)

Handlungsbeduerfnisse, die aus menschlichen Grundbeduerfnissen entstehen, sind in der metaphysisch orientierten Philosophie nicht gruendlich mitbedacht worden. Kant z. B. hat Kritik anderer an der praktischen Mangelhaftigkeit seiner Ethik stets abgewehrt und darin keinen Anlass gesehen, sein apriorisches Konzept zu ueberpruefen, bzw. es zu revidieren. (Vgl. die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kant und Ulrich. Kant: Metaphysische Anfangsgruende der Naturwissenschaften. In: Akademieausgabe von Kants gesammelten Werken, Bd. IV, S. 474/6. Christian Jakob Kraus: Rezension zu Ulrichs ‚Eleutheriologie‘, In: Akademieausgabe von Kants gesammelten Werken, Bd. VIII, S. 451ff.) Diese strukturell vorhandene Abwehr in der Philosophie gegen die Beschaeftigung mit Konkretem hat ‚philosophieren‘ in Verruf gebracht. Die Philosophie, so wie sie sich noch heute mehrheitlich als ‚Analytische‘ praesentiert, stoeszt einen eigenstaendig philosophierenden Jedermannphilosophen vor den Kopf. Ich frage mich dabei nach dem Interesse dieser Philosophen und dem Nutzen dieses Philosophierens.

Jahrhundertlange Uebungen in Wahrheitsdiskussionen, die man um der Wahrheit willen fuehrte, haben ferner dazu gefuehrt, dass skeptisches Philosophieren in Skeptizismus umgemuenzt wurde. Die Bedeutung „zweifeln“ beherrscht bis heute die entstellende neuzeitliche Auffassung der Skepsis. ‚Zweifeln‘ war keine Mitbedeutung antiker Skepsis gewesen. Zweifel an Dogmen sind und waren stets Merkmale religiöser Auffassungen. Sie ergaben sich ausgepraegt als Folge von ‚forschen‘ im Mittelalter und in der Neuzeit. Die Art von Enthaltung wie sie antiken Menschen nahe war, kann sich heute noch in der Redewendung „Da bin ich skeptisch!“ aeuszern. Menschen – so Hume’s Sicht – brauchen nicht zu fuerchten, aus ihrer Skepsis Nachteile zu ziehen. Sie haben physiologisch wirksame Hemmungen gegen den Skeptizismus, denn sie orientieren sich an ihren Lebensbeduerfnissen. „Wir sollten in allen Wechselfaellen des Lebens stets skeptisch bleiben. Glauben wir z. B. dass Feuer waermt und Wasser kuehlt, so liegt das lediglich daran, dass jede andere Sichtweise viel zu schmerzhafte Nachteile hat.“ (Hume, Treatise, 1,4,7,11)

Ueber den Mythos des Geistigen



Meine Ablehnung von Erkenntnistheorien bezieht sich u.a. auf deren Setzungen wie z.B. ‚Geist‘, ‚Vernunft‘, ‚Verstand‘, ‚wahr‘, ‚falsch‘, Wissen, … etc., die aber in erkenntnistheoretischen Loesungen nicht als Setzungen ausgewiesen wurden, sondern im Gebrauch der Worte den Charakter des Faktischen annahmen und so gewohnheitsmaeßig die Selbstverstaendlichkeit des Geistigen und aller damit verbundenen geistigen Faehigkeiten kreiert haben dürften. Jeder der diese Ueberlegung nicht teilt, wird sie argumentativ mehr oder weniger geschickt und eventuell mit dem Hinweis auf wissenschaftliche Autoritaeten verwerfen.

Ohne auf denkbare Argumente einzugehen, ist weiter von Bedeutung, dass die im Diskurs zwischen verschiedenen Erkenntnistheorien zum Faktum erhobene Behauptung ‚der Geist ist etwas‘ verbunden wurde mit der abendlaendischen Behauptung, der menschliche Geist sei besser als der menschliche Koerper. Eine Behauptung die u.a. bei Augustin Thagaste zu finden ist, der seinem „Prinzip der Innerlichkeit“ folgend meinte: „Melius quod interius.“ (Bekenntnisse 10.6.9 )
Diese Idee, dass ‚innere‘, ‚geistige‘ Erkenntnis hoeherwertiger sei als Schlussfolgerungen aus ’sensorieren‘, zieht sich als unbemerkte Behauptung selbstverstaendlich durch jede Erkenntnistheorie. Sie foerdert die Auffassung, dass grundsaetzlich jede Theorie der Praxis überlegen sei. Es koennte sein, dass neuzeitliche Erkenntnistheoriker als Soehne und Toechter der ihnen auferlegten metaphysischen Schulung im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams und gegen die aufklaererische Forderung ’sapere aude‘ die Pflicht erfuellen, die von den Altvorderen aufgestellten Behauptungen nachzuweisen, um sie weiterhin zu benutzen und um darueber hinauszugehen: Erkenntnistheoretiker naemlich behaupten, dass geistige d.h. apriorische Erkenntnisse jeweils Grundlage unseres ‚handeln‘ seien. Eine Behauptung, die noch heute m. E. unnoetige Graeben zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Sichtweisen aufreißt. Die als Loesung angesehene Behauptung duerfte in Zeiten autoritaetsorientierten Philosophierens vermutlich als funktional betrachtet werden koennen, aber in Zeiten des Beduerfnisses nach zunehmender Eigenstaendigkeit und nach Authentizitaet als verzichtbare Beschraenkung erlebt werden.

Hume hatte dazu bemerkt, dass der Verzicht auf die unreflektierte Uebernahme von Behauptungen frueherer Autoritaeten, alle deren Behauptungen fragwuerdig, wenn nicht hinfaellig macht. Es bleibt ohne Autoritaet nur noch die jeweils eigene Sicht auf die Dinge. Statt von Behauptungen anderer auszugehen, kann ein Mensch sich dann bloß auf das beziehen, was ein Mensch jeweils kennen kann. Die Philosophiegeschichte dokumentiert, dass es in der Philosophie bisher selten vorgekommen ist, dass eigenstaendig philosophiert wurde, wie es die antiken Philosophen gefordert hatten. Im Gegenteil: Es hat sich im Bemuehen um Gewissheit im philosophischen Denken der westlichen Welt etwas verfestigt, das als Denkverbot funktioniert: „Du sollst den Geist, die Vernunft, … etc. nicht in Frage stellen!“ Macht jemand sich daran zu schaffen, steht er in Gefahr philosophisch ignoriert zu werden. Dekonstruktion ruft Empoerung hervor. Das duerfte sich nachteilig fuer eine philosophische Weiterentwicklung auswirken koennen.

Die hier skizzierten, vermuteten Zusammenhaenge verdienen aus meiner Sicht nicht den Namen ‚Dekonstruktion‘: dazu muessten sehr viel weiter fuehrende Ueberlegungen angestellt werden. Sie taugen m. E. aber dazu, um begruendete Fragen zu stellen und ein Gefuehl des Unbehagens hervorzurufen.

Gewissheiten und ‚letzte Gruende‘



Unter den ersten Huetten, die Menschen sich bauten, waren solche, die auf Pfaehlen standen. Diese Konstruktion diente vermutlich dem Schutz vor Gefahren. Solange die Pfaehle hielten, konnten sie mehr oder weniger lange Garanten dieses Schutzes sein.

Gewissheiten werden erworben

Aehnlich duerfte es sich mit Gewissheiten verhalten, die Menschen fuer sich erfinden. Ich denke, Menschen brauchen Gewissheiten, nur scheinen sich Menschen in der Regel nicht darueber im klaren zu sein, wie es sich mit Gewissheiten verhaelt, bzw. wie es um die jeweilig eigenen bestellt ist. Gewissheiten scheinen ‚mit der sich wiederholenden Abfolge aehnlicher Ereignisse‘ (David Hume) zu entstehen. Sie beruhen also auf Vergangenem, sind ‚Setzungen aus Erfahrung‘ (Rolf Reinhold) und koennen daher nur eine probabilistische Sicherheit bieten. Ein anderer Schutz als dieser scheint uns Menschen nicht zur Verfuegung zu stehen.

Inzwischen erlaeutern Neurowissenschaftler: Sich aehnlich wiederholende afferente Ereignisse und ihnen folgende efferente Ereignisse ergeben mit der Zeit bestimmte neuronale Aktivitaetsmuster. Durch diese quasi regelgeleitete Arbeitsweise wird unsere organische Effizienz optimiert. Dies laesst sich u.a. an allen unseren motorischen Faehigkeiten (Bewegungen einschließlich Sprache=’handeln‘) ablesen, die jeweils erworbene Aktivitaetsmuster voraussetzen. Der Erwerb solcher Aktivitaetsmuster ist u.a. an Zeit und Wiederholung gebunden. Feststellbar ist aber auch, dass neuronale Aktivitaetsmuster durch optimierte ersetzt werden koennen. Unter Leistungssportbedingungen genuegt es z.B. nicht, die ueblicherweise erworbenen Bewegungsablaeufe einzusetzen. Bewegungsablaeufe muessen veraendert werden, wenn jemand im Wettbewerb mit anderen mithalten moechte. Die Veraenderung erfolgt ueber Reflektion der eigenen Bewegungsablaeufe unter Einbeziehung sportwissenschaftlicher Forschungsergebnisse und dem Trainieren veraenderter Bewegungsablaeufe.

Gewissheiten aendern sich

Menschen leben mit vielen Gewissheiten, meistens ohne damit zu rechnen, dass Gewissheiten, wie alles im menschlichen Leben Veraenderungen unterworfen ist. Auch unsere pfahlhuettenbauenden Vorfahren duerften erlebt haben, dass Holz im Wasser stehend seine Stabilitaet verliert. Die Gewissheit, dass die Waende eines Hauses stabil seien, wird kontrastiert durch die Tatsache, dass fast unmerklich, aber dennoch kontinuierlich der Putz von den Waenden rieselt. Wollmaeuse weisen darauf hin, dass Stoffe und Tapeten Fasern, Gegenstaende aller Art kleinste Teilchen verlieren. Die Dinge nutzen sich ab. Reparaturen oder gar Neuanschaffungen werden noetig.

Unser Koerper ist vielfaeltigen Veraenderungen unterworfen. Belege dafuer koennen sein, Hautteile, Schuppen, die sich in Matrazen, im Badewasser und in Kleidungsstuecken wiederfinden. Wir altern. Hunger, Durst, Muedigkeit signalisieren Veraenderungen. Der Gewissheit: Ich bin jetzt satt, folgt die Gewissheit: Ich habe Hunger. Wir beschließen den Tag mit der Gewissheit fuer heute genug getan zu haben, um am naechsten Morgen mit der Gewissheit aufzustehen, dass es noch viel zu tun gibt. Die Gewissheit, dass eine bestimmte Dienstleistung von einem ganz bestimmten Betrieb angeboten wird, muessen wir aufgeben, wenn dieser Betrieb schließt.

Beton in den Städten, Tomaten auf den Augen und Bohnen in den Ohren?

Waehrend wir den Verlust alltaeglicher Gewissheiten in der Regel – gelegentlich unter Unmutsbezeugungen akzeptieren – gibt es eine Art von Gewissheiten, die wir nur schwer oder gar nicht aufgeben moechten oder koennen. M.E. handelt es sich dabei um die Gewissheiten, mit denen wir am laengsten vertraut sind. Menschen neigen dazu an lang vertrauten Gewissheiten auch gegen andersartige Ereignisse festzuhalten. Je geringer die Anzahl der Ereignisse ist, die einer bestimmten Gewissheit entgegenstehen, desto leichter scheint dies zu gelingen. Der bekannte Spruch: „Die Ausnahme bestaetigt die Regel!“ kann fuer derartige Konstruktionen stehen. Man bezeichnet dies als „Nicht-Wahrhaben-Wollen“. Max von der Gruen beschrieb in seinem Buch „Wie war das eigentlich?“ ueber seine Kindheit und Jugend im Dritten Reich das Phaenomen, dass die Menschen oft bemerkten, wenn sie von Graeueltaten hoerten: „Wenn das der Fuehrer wuesste!“ Er bewertete dies als Flucht aus der Verantwortung und Ergebnis einer geschickten Progaganda. Im augenblicklichen Zusammenhang dient mir dieses Phänomen außerdem zur Vervollstaendigung der Betrachtung menschlichen Verhaltens an teuren Gewissheiten festhalten zu wollen. Der Wert des einmal Gefassten wirkt kontraproduktiv auf unsere lebensnotwendige Faehigkeit adaequat zu denken und zu handeln. Der Asphalt unserer Staedte, der Beton unserer Gebaeude macht die zivilisierte Scheinwirklichkeit fundamental. Erst Naturkatastrophen – Verbrechen und Kriege in aehnlicher Weise – wecken das Grauen vor dem Verlust unserer Gewissheiten.

Verwandeln von Gewissheiten in Annahmen und Praesenz

Menschen duerften den Blick fuer die Realitaet verlieren, wenn sie an Gewissheiten unbeirrt festhalten moechten. Letzteres praegt aus meiner Sicht das Schicksal Einzelner und ganzer Kulturen genauso wie das Schicksal von Metaphysikern, die sich als Philosophen bezeichnen, aber laengst den menschlichen Boden unter ihren Fueßen verloren haben, waehrend sie aus alter Gewohnheit nach letzten Gruenden, also nach unwandelbaren Gewissheiten suchen. Dass wir ueber derartige Vorhaben nicht mehrheitlich in schallendes Gelaechter ausbrechen, duerfte ein Indiz dafuer sein, wie nah vielen von uns das Beduerfnis nach letzten Gewissheiten sein duerfte. Metaphysiker gehen beispielhaft voran: Sie stuerzen sich denkend in Abgruende, woraus sie sich in den quasi-religioesen Glauben ihrer Erkenntnisse retten. Menschliches Leben aber kann nicht mehr als voruebergehende Gewissheiten schaffen. Um unser ‚handeln‘ adaequat vollziehen zu koennen, scheinen mir kurzlebige Gewissheiten voellig ausreichend. „Jeder Schritt ist der erste!“ lautet ein Koan aus Rolf Reinholds Philosophie. Gewissheiten sind ihm unbekannt. Er geht konsequent von Annahmen aus. Mein lange verstorbener Metaphysiklehrer meinte: „Es kommt auf die Gegenwart an.“ Gegenwart war fuer ihn jeder einzelne, kleinste Jetztpunkt (Augenblick) einer langen Reihe von Jetztpunkten und einzig wirkliche Ort menschlichen Handelns und Nachdenkens, der sich beim Tun verfluechtigt.

Hinsehen ist nicht gleich ‚hinsehen‘



Wenn physistisch gepraegte Philosophen darauf hinweisen, dass ‚hinsehen‘ das A und O ihres ‚philosophieren‘ sei, dann wird ihnen von Metaphysikern (= Philosophen, die Bewusstsein fuer eine Wirklichkeit halten) entgegengehalten: „Das ist nichts Neues, das tun wir alle!“

Mir faellt dazu der blinde Fleck im Auge jedes Menschen ein, den meines Wissens bisher noch nie jemand gesehen hat, auszer er sieht so hin, wie Fachleute dies tun. Mir faellt weiter die altbekannte Frage ein: Wie kommt es, dass Du das Staubkorn im Auge eines anderen siehst, nicht aber den Splitter in Deinem eigenen?
Oder auch die volkstuemliche Feststellung, dass jemand ein Brett vor dem Kopf habe, weil er etwas nicht begreift. Aus physistisch gepraegter Sicht duerfte ’sensorieren‘ – das neurobiologische Funktionsprinzip fuer ‚hinsehen‘ – mit all diesen Phaenomenen zu tun haben.

Welche Rolle spielt ’sensorieren‘?

Ihre Auspraegung duerfte vermutlich von der genetischen Ausstattung und von der Funktionalitaet der Sensoren abhaengen. Ueber die genetische Ausstattung moechte ich mich an dieser Stelle nicht weiter auslassen, weil Menschen darauf zur Zeit noch keinen Einfluss haben. Doch Einfluss haben Menschen auf die Funktionalitaet der Sensoren. Diese scheint von ‚entscheiden‘ abhaengig zu sein. ‚entscheiden‘ haengt aus physistisch gepraegter Sicht mit dem zusammen, was Benjamin Libet und nach ihm Gerhard Roth und andere als „Bereitschaftspotential“ (vgl. Benjamin Libet: Mind Time. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2007, S. 160. Zusammenfassung) gemessen haben, kurz bevor der bewusste Impuls fuer eine bestimmte Handlung erfolgte. Der Auffassung Gerhard Roths, dies sei das Ende der menschlichen Freiheit, moechte ich mich nicht anschlieszen (vgl. Koerpervernunft)

Ich schlussfolgere aus den Libet-Experimenten und anderen Forschungsergebnissen zur Funktionsweise von Sensoren (Neuronen einschlieszlich) – wie sie u.a. das Frankfurter Max-Planck-Institut und das Ulmer Transferzentrum fuer Neurowissenschaften und Lernen  (ZNL) veroeffentlichen -, dass  „Bereitschaftspotential“ etwas sein duerfte, was ein Sensor bzw. ein Netzwerk von Sensoren erzeugt, nachdem etwas sensoriert wurde. Ohne dieses „Bereitschaftspotential“ scheint keine Wirkung feststellbar. Es gibt das Phaenomen ‚eingeschlafener Gliedmaszen‘, mit dem ein bestimmtes, unangenehmes Empfinden beschrieben wird und Sensorierbares nur sehr diffus bemerkt wird. Auch lokale Betaeubungen koennen Vergleichbares erleben lassen. Gelaehmte Koerperteile koennen nicht bewegt werden. Wachkomapatienten sind fast vollstaendig bewegungsunfaehig. Diese Phaenomene haben u.a. mit dem Verlust der Sensitivitaet von Sensoren zu tun, die eine Voraussetzung fuer die Moeglichkeit sein duerfte, „Bereitschaftspotential“ aufzubauen und periphere bzw. vegetative Wirkungen zu produzieren.

Ich denke, man kann verallgemeinernd sagen, dass Menschen ’sensorieren‘ fuer ihre koerperliche Gesundheit und ‚handeln‘ brauchen.

Derartige humanbiologische Bezuege werden vom Mainstream der Philosophie weder hergestellt noch im Hinblick auf ‚handeln‘ diskutiert. Mir kommt es oft so vor, als glaubte man, mit der Philosophie des Geistes (eine andere Bezeichnung fuer Metaphysik), bzw. der Theoretischen Philosophie autark zu sein und sich unbekuemmert auf traditionellen Schauplaetzen tummeln zu koennen. Behauptungen wie die Humanbiologie und die Metaphysik seien auf ganz unterschiedlichen Ebenen taetig, bzw. die Metaphysik befasse sich mit Gegenstaenden, die der Humanbiologie eben nicht zugaenglich seien, duerften vor allem dem Selbsterhalt dienen. Dabei wird m.E. ausgeklammert, dass seit Jahrhunderten eine einvernehmliche und nachvollziehbare Antwort auf Fragen nach den metaphysischen Gegenstaenden aussteht.

Wie kommt es, dass Metaphysiker an ihren Sichtweisen festhalten?

Metaphysik, bzw. deren Wissen, auch Erkenntnis genannt wird, bezeichnet eine traditionelle philosophische Weltsicht, die durch das begruendet wird, was wiederum andere rueckwaerts gerichtete Philosophen andachten und umdachten. Dies duerfte – weil Universitaeten in der Regel Philosophie im Kontext der Rueckwaertsgewandtheit lehren, anstatt Studenten zum ‚philosophieren‘ lernen anzuregen – zu einem beruflichen Profil und Blick fuehren, das ‚hinsehen‘ auf Gegenwaertiges zumindest beeintraechtigen duerfte. Rorty’s Ruf, Implikationen philosophischer Probleme zu erforschen, scheint ungehoert geblieben zu sein. Selbst wenn andere Woerter verwendet und der natuerliche Kosmos durch die Welt der Sprache ersetzt werden, bleibt der Anspruch bestehen, mit Abstraktionen erhellende Beitraege zu einem Diskurs der Wissenschaften und Menschen liefern zu koennen. Das Prinzip, nicht zu sehen, was fuer viele andere offensichtbar ist, scheint die Metaphysik zu regieren. David Hume hat ein anderes wichtiges Prinzip menschlicher Natur entdeckt, dass sich mir an dieser Stelle nahe legt: Die Gewohnheit fuehrt Menschen durch ihr Leben. Die jahrhundertealte Gewohnheit Philosophie als Metaphysik aufzufassen, duerfte den Mainstream der Philosophie mehr beeinflussen, als ihren Vertretern lieb und vor allem bekannt sein duerfte. Möglicherweise könnte sie diese Gewohnheit veranlasst haben,  zum Philosophen der „Gewohnheit“ auf Distanz zu gehen.

Selbst im Rahmen der Neurophilosophie – wie Thomas Metzinger und andere sie auffassen – wird ganz selbstverstaendlich davon ausgegangen, dass hinter bestimmten Phaenomenen Geist stehe. Das Phaenomen „Bewusstsein“ ist ’nicht biologisch evolviert‘ und wird daher metaphyischen Denkgewohnheiten folgend mit Substanz belegt, die mit „Wirklichkeit und Innerlichkeit“ charakterisiert wird. In ’nachgehegelter‘ Weise wird ueber die „Wirklichkeit Bewusstsein“ folgendes metaphysiziert, bzw. mythologisiert: „Der Vorgang des Lebens ist sich seiner selbst bewusst geworden.“ Thomas Metzinger &Thorsten Schmidt: Der Ego-Tunnel. Berliner Taschenbuchverlag 2010, S.31.

Diese implizite Voraussetzung muendet dann im Anschluss an Diskussionen humanbiologischer Experimente in die Feststellung, dass es „verblueffend“ sei zu sehen, „… wie klassische philosophische Gedanken einen Beitrag zu einem tieferen Verstaendnis dessen leisten, … wie man sich die Beziehung zwischen Geist und Gehirn denken kann.“ (ebd. S. 168)

physistisch gepraegtes ‚hinsehen‘ verzichtet auf traditionelle philosophische Sichten

Im Unterschied zu diesem Bemaechtigen des Koerperlichen durch das als ‚geistig‘ markierte Phaenomen „Bewusstsein“ – was m.E. der seit Descartes praktizierten UEberlegenheit der res cogitans (Denken) ueber die res extensa (Koerper), d.h. einer die ganze neuzeitliche Philosophie durchziehende dichotomischen Sichtweise entspricht, beschraenke ich mich auf Sensorierbares. Bezueglich der Phaenomene, die Metzinger erwaehnt, nehme ich keine „Wirklichkeit“ an, weil ich sie nicht beschreiben kann. Beschreibbar ist lediglich Konkretes. Dieser agnostische Aspekt von physistisch-philosophieren scheint mir den Reichtum von ‚hinsehen‘ erst zu ermoeglichen, waehrend die Behauptung einer dahinter liegenden Wirklichkeit zur alt bekannten philosphischen Besserwisserei fuehrt, die wie Kant und seine Nachfolger verdeutlichen koennen, dazu die passenden Systeme liefert.

Konkretes ‚handeln‘ duerfte seine Impulse aus der menschlichen Natur erfahren. Diese koennte gemeinsam auf Offensichtbares hin erforscht werden, wenn Philosophen sich von den Produkten der Altvorderen verabschiedeten und so die rosarote Brille abnaehmen, die ‚hinsehen‘ in den Fokus einer „geistigen Innerlichkeit“ ruecken, die die abendlaendische Philosophie sei Augustin Thagaste praegt.

‚philosophieren‘ heiszt, eigene Schlussfolgerungen aus ‚hinsehen‘ mit denen anderer allgemein nutzbar zu machen

Ein Philosoph, der ‚hinsehen‘ praktiziert haben duerfte und dafuer aus dem philosophischen Mainstream ausgeschlossen wurde, schrieb mit 23 Jahren: „Ich habe herausgefunden, dass die Philosophie ueber menschliches Handeln seit der Antike mit derselben Unzulaenglichkeit arbeitet wie die Naturwissenschaft. Beide gehen m.E. ausschlieszlich von Hypothesen, d.h. ueberwiegend von Erfindungen aus, anstatt sich auf Sensorierbares und Erforschbares zu beziehen. Jeder Philosoph bemuehte seine Fantasie und errichtet Chimaeren inner- und zwischenmenschlicher Idealitaeten und beglueckender Lebenskonzepte, ohne die menschliche Natur mit einzubeziehen, von der – aus meiner Sicht – jede philosophische Schlussfolgerung ueber gesellschaftsweit praktizierte Mitmenschlichkeit ausgehen muesste. Deshalb moechte ich vor allem Sensorierbares und Erforschbares studieren und dieses als Quelle von Kenntnissen fuer humane Wissenschaften verwenden. Ich halte es inzwischen fuer eine Tatsache, dass die meisten verstorbenen Philosophen Opfer ihrer eigenen spekulativen Faehigkeiten geworden sind. Auszerdem bin ich sicher, dass man nicht viel mehr tun muss, um zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen, als alle die alten Spekulationen zugunsten der eigenen Schlussfolgerungen oder der anderer wegzuwerfen. Davon duerfte es letztlich abhaengen, ob meine Ueberlegungen fuer zutreffend gehalten werden oder nicht.“ David Humes Brief an einen Arzt. Verfasst 1734, veroeffentlicht von John Hill Burton: Life and Correspondance of David Hume. Edinburgh 1846. Band I. S. 30 – 39.

Theorien im wissenschaftlichen Diskurs


Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Grundlagenforschung.

Ich gehe davon aus, dass der Mensch nur das denken kann, was seine physische Organisation – zu denen seine Sensoren gehoeren – ihm zur Verfuegung stellt. Diesen Gedanken stellte ich vor kurzem in einer interdisziplinaeren, universitaeren AG zum Diskurs. Dieser Gedanke sei trivial, niemand gehe davon aus, dass es anders sei, schallte mir entgegen. Die Antwort verblueffte mich. Ich stolpere naemlich seit Jahren darueber, dass Wissenschaftler von Theorien ausgehen, anstatt von dem, was wir sensorieren koennen.


Neurobiologie und Neuropsychologie

Ein Beispiel kann illustrieren, wie ich ins Stolpern komme.

„Das Interesse an den neurobiologischen bzw. neuropsychologischen Vorgaengen, die menschlichen Lern- und Entwicklungsprozessen zugrunde liegen, hat sich in den letzten Jahren zusehends gesteigert. … In zunehmendem Masse gerieten die Grundlagen der menschlichen Persoenlichkeitsentwicklung, der Handlungsplanung, der Ich-Funktionen oder der zwischenmenschlichen Kommunikation in den Blick, also das, was man als wesentliche Bereiche der menschlichen ‚Psyche‘ zu bezeichnen geneigt waere.“ [Guenter Schiepek (Hg.): Neurobiologie der Psychotherapie. (u.a. mit Beitraegen von Gerhard Roth, Manfred Spitzer, Manfred Lambertz, Volker Perlitz, Kai Vogeley, Christian Schubert …) Stuttgart (Schattauer) 2003,  S. 1.] Auszug bei Google-Buch

Die Psychologie verwendet philosophische Begriffe

Ich stolperte zuerst ueber den Terminus  „Interesse an den neurobiologischen bzw. neuropsychologischen Vorgaengen“. Mir ist bekannt, dass es mindestens seit dem 17. Jahrhundert ueblich ist, Gehirn und Psyche wissenschaftlich zu korrelieren. U.a. hat auch die Idee „Aether“ die wissenschaftlich-neurobiologische Szene dieser Zeit beherrscht. Man versprach sich eventuell von ihr, den „Begriff“ bzw. das Erklaerungsmodell „Psyche“ konkretisieren zu koennen. In diesem Sinne hat dann Christian Wolff’s Auffassung von Psychologie im 18. Jahrhundert zusammen mit den Forschungsergebnissen von Naturwissenschaftlern wie z.B.   Joseph Priestley , Charles Bonnet und Samuel Thomas Soemmering europaweit psychisches Geschehen im Gehirn verortet. Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts gingen davon einvernehmlich aus, wie u.a. Soemmerring in einem Brief an Kant erwaehnte.

Die dichotomische Theorie dahinter

Auch folgendes steckt m.E. hinter dem einleitenden Text bei Schiepek. Man moechte  Neurobiologisches und Neuropsychologisches als einander Ebenbuertiges auffassen. Die Annahme, dass Seelisches und Koerperliches sich in praestabilisierter Harmonie befaenden, wie z.B. bei Leibniz nachzulesen, mag die Selbstverstaendlichkeit solch wissenschaftlichen Hantierens zusaetzlich erlaeutern. Die m.E. ausschlaggebende Theorie dahinter aber heisst: Der Mensch besteht aus Koerper und Geist. Oder wie Descartes unterschied: Es gibt „res cogitans“ und „res extensa“. Die „res cogitans“ sei der „res extensa“ ueberlegen, fuehrte er weiter aus und folgte so alten ontologischen Auffassungen. Daraus folgerte er: Denkend erfasse der Mensch seine und jede andere Wirklichkeit, wenn er nach bestimmten Methoden vorgehe. Diese Methoden haben quasi apriorischen Charakter . Derartiges stellte meine oben erwaehnte Annahme, der Mensch kann nur denken, was er sensoriert, auf den Kopf und ich überlegte, wie auf diese Art und Weise sensorieren und denken verbunden sein könnten.

Frag-würdige Überprüfung von Theorien

Das ergab fuer mich die Vermutung, man wende wissenschaftlich bereits seit langem erhobene psychologische Termini und Erklaerungen auf neu entdeckte naturwissenschaftliche Sachverhalte an. Diese Vorgehensweise zieht sich durch jede Wissenschaftsgeschichte. Die dabei möglicherweise intendierte Ueberpruefung von Theorien, indem man sie anwendet, duerfte aber kaum gelingen, solange man sich grundlegenden Fragenstellungen an die eigene Theoriebildung entzieht, wie z.B. der folgenden:  Es soll naemlich „… hier davon ausgegangen werden, dass eine … Bezugnahme von geistigen Phaenomenen auf Hirnprozesse prinzipiell moeglich ist, …“ (Schiepek, 424)  Solche selbstverstaendlich verwendeten Voraussetzungen veranlassen mich stets zu grosser Distanz gegenueber dem, was dann als „wissenschaftliche Erkenntnisse“ praesentiert wird. Es war in diesem Fall z.B. voellig unklar, was der Terminus ‚geistige Phaenomene‘ bezeichnen soll. D.h. es wurde eine weitere Denkgewohnheit unhinterfragt verwendet. Diese Denkgewohnheit implizierten u.a. Mitbedeutungen wie: Geist sei etwas und habe die Macht oder Kraft auf unseren Koerper zu wirken.

Der selbstverständliche Gebrauch von Denkgewohnheiten wirkt verhängnisvoll

Hume hatte dieses „Wissen“ im 18. Jahrhundert m.E. durch Hinsehen auf die Dinge gruendlich in Frage gestellt.  Die Mehrzahl der Wissenschaftler zeigte sich seit Jahrhunderten unbeeindruckt von seinen Anregungen. Mir faellt es leicht zu Humeschen Beschreibungen ja zu sagen. Ich habe aus eigenem Erleben die Wirksamkeit selbstverstaendlich gueltiger Denkgewohnheiten und Auffassungen kennen gelernt. Ich bin ueber ihre negativen Folgen fuer mein Handeln nachdenklich geworden. Deshalb unterstelle ich Wissenschaftlern versuchsweise, dass sie das gleiche Verhaengnis wie ich erleiden. Sie leiden moeglicherweise an der platonisch-aristotelischen Krankheit, Dichtungen fuer Konkretes zu halten und sind unermuedlich auf der Suche nach Anzeichen dafuer, dass ihre in diesem Kontext erfundenen Theorien „wahr“ sind.

Wie weitreichend die Auswirkungen solcher Vorgehensweisen sind, liess sich fuer mich am zweiten Teil des Eingangszitates erahnen: „In zunehmendem Masse gerieten die Grundlagen der menschlichen Persoenlichkeitsentwicklung, der Handlungsplanung, der Ich-Funktionen oder der zwischenmenschlichen Kommunikation in den Blick, also das, was man als wesentliche Bereiche der menschlichen ‚Psyche‘ zu bezeichnen geneigt waere.“ Hier sollen komplette psychologische Forschungsbereiche im Verein mit voellig unterschiedlichen Auffassungen ueber „Persoenlichkeit, Handeln, Ich und Kommunikation“ miteinbezogen und mit neurobiologischen Grundlagen ausgestattet werden. Ich fragte mich, ob der Herausgeber sich nicht doch etwas viel vorgenommen hat. Koennte es sein, dass unerforschte Voraussetzungen zur Omnipotenz verleiten? Konkrete Beispiele fuer derartige Vermutungen kenne ich.

Neurobiologisch gestützte Spekulationen statt ‚hinsehen‘ auf die Dinge

Ich interpretierte diesen Ansatz schliesslich als Hinweis darauf, dass man daran interessiert sei, das Gespraech ueber neurobiologische Forschungsergebnisse nicht zu versaeumen, ohne sich ueber die eigenen Voraussetzungen Gedanken zu machen. Anders gesagt, ich hatte den Eindruck, man moechte bisher geuebte Theorien beibehalten und sie auf neurobiologische Forschungen stuetzen koennen. Aehnliches schien ein Mitautor des Schiepek-Bandes,  Kai Vogeley anzunehmen, wenn er von „neurobiologisch gestuetzten Spekulationen“ spricht. (Vgl. Kai Vogeley: Selbstbewusstsein, soziale Kognition und Hirnruhezustand . Aus einer Online-Veroeffentlichung der Arbeitsgruppe „Signsofidenty“ der Philosophischen Fakultaet der Leibniz Universitaet Hannover.)

Die Fragwuerdigkeit eigener Grundlagen wird ignoriert

Daraus folgerte ich, in dem vorliegenden Band wurden Theorien vor das Hinsehen gesetzt und so neu Sensorierbares gewohnheitsmaessig interpretiert. Das entsprach nicht meiner Sicht auf den Zusammenhang zwischen ’sensorieren‘ und ‚denken‘. Ich lasse Sensoriertes von meiner physischen Organisation verarbeiten und warte ab, welche Worte mir dazu einfallen. Marginalisiert wird dabei ausserdem, dass man innerhalb der Psychologie laengst bemerkt hat, dass Selbstverstaendlichkeiten sich aufloesen: „In den Kulturwissenschaften, in der Soziologie und der Psychologie ist fraglich geworden, inwieweit … und in welcher Form Begriffe wie „Subjekt“, „Person“, „Ich“, „Selbst“, die zum Grundbestand alteuropaeischer Denktradition gehoeren (Luhmann), … der Dekonstruktion standhalten koennen.“ Ebd.

Der Konsens – so fiel mir dazu ein -, den Augustin von Thagaste mit Freunden und Verwandten Ende des 4. Jahrhunderts in der Naehe von Rom herstellen konnte, dass der Mensch aus Geist und Koerper bestehe, ist schon seit laengerem nicht mehr unser Konsens.

Folgen: unzutreffende Schlussfolgerungen

Theorien über Menschliches gehen implizit immer noch davon aus.  So kommt es im Fall der „Neurobiologie der Psychotherapie“ zu weitreichenden, aber aus meiner Sicht sehr irrtumsträchtigen Aussagen, weil der Sachverhalt nicht beobachtbar ist: „Zumindest kann die Neurobiologie heute in groben Zuegen angeben, ‚wie das Gehirn die Seele macht‘.“ (Ebd. S. 41.) Mir fiel dazu ein Gespraech mit meinem Schwager ein, der als Physiker auf neurobiologischen Terrain forscht. Er sah ausgehend von der Sache keinerlei Moeglichkeiten derartige Aussagen machen zu koennen. Die experimentellen Settings zu diesem Thema verbinden nichts weiter als Aussagen der Probanden mit ihren Messergebnissen. (Vgl. Benjamin Libet : Mind Time. Frankfurt am Main (Suhrkamp TB) 2007, S.34ff. ) Derartige Schlussfolgerungen verbunden mit folgender verschlagen mir die Sprache. „Die Ergebnisse der Hirnforschung sowie der entsprechenden medizinischen Disziplinen machen plausibel, dass es sich bei der Beziehung zwischen mentalen Zustaenden und Hirnprozessen um eine sehr enge Korrelation handelt.“ (Schiepek, 424) Das wunderte mich nicht, denn man war ja bereits davon ausgegangen, dass diese Beziehung moeglich sei. Es verstärkte meine Idee, dass die wissenschaftshistorische Erforschung des Bezuges von Theorien zu Konkretem sehr wichtig sein dürfte.

Ich moechte anfuegen, dass auch ich ohne Theorie nicht handeln und forschen kann. Ich nenne das, wovon ich denkend und handelnd im Hinblick auf mein ’sensorieren‘ ausgehe, dank eines gruendlich ueberlegten Vorschlages von Rolf Reinhold, Annahmen – kleine Wolken. Sie haben den Vorteil, dass ich sie stets auf Konkretes beziehen und daher auch leicht korrigieren kann.

Man sieht, was man sieht und sieht nicht, was man nicht sieht.

Komplexe Theorien wie im Eingangszitat erwaehnt, die weitere wie „Ich“, „Bewusstsein“, „Geist“, „Seele“, „Subjekt“, „Objekt“ implizieren, scheinen infolge ihrer jahrhundertelangen Tradition des selbstverstaendlichen Gebrauches den Anschein von Fachwissen zu erwecken. Die Gewohnheit, Voraussetzungen im Sinne von Wissen anzuwenden, fuehrt vermutlich dazu, zu behaupten: Wir gehen alle denkend nur von dem aus, was wir sensorieren.

„Man kann doch sehen, dass die eine Billiardkugel die Ursache dafuer ist, dass die andere sich in Bewegung setzt!“, wurde Hume – und wird jedem der dies demonstriert – gegen seine auf ’sensorieren‘ bezogene skeptische Auffassung zum Dogma der Kausalitaet entgegengehalten. Was wir sehen, so antwortete Hume, ist, dass ein Ereignis dem anderen folgt. Rolf Reinhold wuerde ergaenzen, insofern ist das erste Ereignis die Ur-Sache. Hume resuemierte weiter, wir finden nichts an  einem erstmaligen Ereignis, das uns veranlassen koennte, konkrete Wirkungen verlaesslich vorauszusagen. Erst wenn wir wiederholt erlebt haben, dass einem bestimmten Ereignis immer wieder ein weiteres aehnliches Ereignis folgt, sagen wir: Wir sehen, dass das erste das zweite bewirkt. Hume fiel nichts Plausibleres ein, als dies Gewohnheit zu nennen, wobei er einraeumte, nicht zu wissen, wie es dazu kaeme. Derartige erworbene Sehgewohnheiten beherrschen als Erwartungen unser menschliches Denken und Handeln ueberall. Menschen neigen dazu, ihre Erwartungen bestätigt zu sehen. Darin duerften auch Wissenschaftler keine Ausnahme machen.

Fragwürdige Sicherheiten aufgeben

Wir sollten Sehgewohnheiten verlassen koennen, wenn wir interdisziplinaer weiter kommen moechten. Ich moechte aber warnen: Dabei koennte sich folgendes ergeben: „Die wahrgenommene qualitative Verschiedenheit der sich in der psychischen und der neuronalen Dimension manifestierenden Phaenomene liegt … an der unterschiedlichen Repraesentation ein und desselben Geschehens im Bewusstsein des Betrachters.“ (Mike Luedmann: Schizophrenie im Angesicht des Leib-Seele-Problems. Journal fuer Philosophie & Psychiatrie, Jg. 2 , 2009, Ausgabe 1.) Fachwissenschaftler duerften diesen Vorgang als schmerzliche Dekonstruktion eigenen Wissens erleben. Wenn ferner entsprechende Forschungsprogramme durchaus relevante Ergebnisse fuer die psychologische Praxis ergeben, auch „… wenn eine reduktive Erklaerung mentaler Phaenomene scheitert. …“, duerfte dies weitreichende Folgen fuer die jeweilige Wissenschaft haben. (Vgl. Guenter Schiepek: Die neuronale Selbstorganisation des Selbst.Ein Beitrag zum Verhaeltnis von neuronalen und mentalen Prozessen aus Sicht der Synergetik* (*Wissenschaft der Selbstorganisation)PDF-Datei.

Physistik statt Metaphysik

Traditionelle Sehgewohnheiten zu merken, scheint mir daher ein nuetzlicher Beitrag für den interdisziplinaeren Diskurs. Rolf Reinhold’s Idee Dinge zu beschreiben, die wir gemeinsam aspektualisieren können, koennte dazu beitragen unsere Basisannahmen nicht nur denkend gegenwaertig und so revidierbar zu halten, sondern sie auch so ueberschaubar wie nur moeglich zu halten.