Eine schwerwiegende Behauptung …

 

… ist es wohl, wenn eine Autodidaktin behauptet, dass Kant’s Philosophie nichts als eine Neuauflage alter Lehren sei. Ich verstecke mich dabei hinter Wahle, der schon vor 100 Jahren gesagt hat, was ich heute denke.

Dies ist ein alter Trick, aber unter Philosophen schon lange verbreitet. Von dem Englaender „Abaelard aus Bath“ einem eher nuechternen Denker aus dem 12. Jh. ist mir bekannt, dass er diesen Trick ebenfalls kannte. Er schrieb – sinngemaesz – wenn man heute (im 12. Jh.) etwas Neues sagen moechte, darf man dieses Neue nicht als das Eigene ausgeben. Stattdessen muesse man darauf hinweisen, dass bereits der oder jener schon das Gleiche gedacht habe.

 Nun Abelard hatte zu seiner Zeit seine guten Gruende, Abweichendes als Erfindungen bekannter, moeglichst aber anerkannter Denker auszugeben. In meinem Fall sind diese guten Gruende andere.

 Ueber einen derart anerkannten Philosophen wie Kant zu behaupten, seine Philosophie sei schon zu seinen Zeiten ueberholt gewesen, setzte eigentlich voraus, dass ich einen doppelten „Dr. habil.“ vor meinem Namen trage. Aber selbst dann noch garantierte dies nicht, dass man sich in Fachkreisen damit ernsthaft befasste, geschweige denn mir zustimmte.

Ich trete hier naemlich in Legionen von Fettnaepfchen. (Brauche aber nicht mehr die Inquisition zu fuerchten.) ‚Diese Dame versteht ja nichts von Philosophie.’, bekaeme ich eventuell zu hoeren. Dieser Hinweis ist berechtigt: Von dem, was viele unter Philosophie verstehen, verstehe ich naemlich gar nichts. Auf die meisten von ihnen duerften meine Sichten eher laecherlich wirken.

Das nun wiederum finde ich sehr bedauerlich. Da ich jedoch Lachen fuer eine sehr natuerliche, menschliche Reaktion halte, wenn gewohnte Sichtweisen in Frage gestellt werden, nehme ich es niemandem uebel.

 Ich schreibe hier selbstverständlich nicht, um ausgelacht zu werden, ich schreibe fuer Andere, die wie ich vom Virus der Nachdenklichkeit infiziert sind. Nachdenken tut jeder – das ist klar. Doch mein Virus ist unentwegt taetig und noetigt mich zu graben, graben, graben … Das habe ich mir nicht ausgesucht, ich denke wie von selbst … und kann mich einfach nicht zufrieden geben, mit dem was andere zufrieden macht.

 Ich schreibe daher nur fuer die, denen es aehnlich geht wie mir.    

Reproduktion alter Lehren bei Kant

 

Wahle schaetzte Philosophen, wenn sie ‚originelle Fragen und Loesungen erfinden’. Alle anderen brauche man eigentlich gar nicht zu erwaehnen, fuegte er hinzu. Kant fiel zuerst dadurch auf, dass er an einer Hochschule  – wenn auch vorsichtig – zunaechst verkuendete, dass weder Gott noch die Seele beweisbar sind. Damit schwamm er im Strom seiner Zeit, aus dem er sich aber wieder zurueckzog.

Wer sich in der Philosophiegeschichte auskennt, findet bei Kant nur laengst bekannte Ideen und scholastische Unterscheidungen, so Wahle in seiner „Tragikomoedie der Philosophie“. Der Zeitgeist wurde jedoch von neuen Gedanken und Ideen gepraegt. Im 18. Jahrhundert habe sich die philosophische Welt beim Grossteil der Gebildeten materialistisch und atheistisch veraendert. Deismus, Religionskritik , historische Forschungen und Philosophien wie die von Lamettrie, Helvetius , Holbach, D’Alemberts, Diderot, Cudworth, Voltaire, Rousseaus gehoerten zu diesen Veraenderungen und verbuendeten sich mit denen des allgemeinen Weltbildes.

Vor Kant hatte bereits Locke die Vernunfttaetigkeit analysiert und festgestellt, dass einzig die sinnliche Wahrnehmung  menschliches Denken bestimmt und daher Grundlage wissenschaftlicher Forschung sein müsse.  Hume hatte sich Locke’s Analyse angeschlossen.  Hinsichtlich der Unerkennbarkeit des Dinges an sich, der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit hatte er Locke’s Analyse konsequent zu Ende gefuehrt. Kant war daher nicht der erste, der die Vernunft analysierte. Seine „kopernikanische Wende“, die er als seine Idee ausgab, hatten bereits andere vollzogen.  

Kant habe sich seinen Vorgaengern einerseits angeschlossen, indem er forderte, dass man beim Denken und Forschen von den Sinnen ausgehen muesse; aber seine Unfreiheit gegenueber seinen von Kindheit an pietistisch gepraegten Beduerfnissen veranlasste ihn, gleichzeitig metaphysischen Neigungen nachzugehen. Er griff so zusaetzlich zu entgegengesetzten Auffassungen hauptsaechlich zu denen von „Wolff = Aristoteles“, Leibniz und Baumgarten, bei denen er auch die Instrumente  fand, um seine „Analyse der Vernunft“ umfassend durchfuehren zu koennen. So verwendete er „die alten angeborenen Ideen und Saetze“ und stattete damit im Sinne von Leibniz bzw. von Platon die Seele aus. Sie dienten ihm zur Begruendung der Transzendalität der reinen Vernunft und der reinen Begriffe. Bei Baumgarten fand er die zahlreichen differenzierenden Begriffe, logischen und psychologischen Einteilungen, die sein Unternehmen so umfassend erscheinen lassen.

An Kants Lehre sei nichts originell und an seinen scholastischen Formulierungen fast nichts, fasste Wahle seine Beschreibungen zusammen. Originell seien seine Termini. Kant nannte seine Art der „Ueberschreitung der Erfahrung“ „transzendental“, behauptete, dass der „Idealismus eine Grundbegabung des Menschen“ sei und nannte daher das, was er tat „transzendentaler Idealismus“. Das war ein neuer Terminus, aber die Sache gab es schon vorher. Historiker trugen dazu bei, „eine Neuheit des Standpunktes vorzutaeuschen“, indem sie neue Systematisierungen einrichteten und neue ‚ismen“ schufen. Doch Kants Lehre bleibe „immer nur eine Reproduktion alter Lehren.“

Trotz seiner Kritik wuerdigt Wahle ihn.

Kant ist als Person ehrwuerdig durch seinen Ernst, seinen  Wahrheitsdrang, als Friedensherold, durch die fleiszige, ausdauernde, wenn auch an Vorbilder sich anschlieszende, umsichtige Administration seines Systems, durch unterscheidungsfrohen Scharfsinn, durch sein erhabenes Pflichtgefuehl, durch seine gelegentlich hervorbrechende Redekraft – aber das muss unserer auf die originellen Progresse der Philosophie bedachten Darstellung so gleichgueltig sein, als es ihr gleichgueltig sein muesste, wenn er ein Spitzbube gewesen waere.

 

Vgl. Wahle: Tragikomoedie der Weisheit, S. 323-330.

Definitives Philosophieren

 

Charakteristisch fuer die Philosophie, die Wahle die „Gespenstische“ nennt, sei folgendes:

  • Philosophen sehen Probleme, das ist loeblich,
  • Sie suchen nach Loesungen, das ist noch loeblicher.
  • Dazu machen sie einen Sprung und landen mit dem Kopf im Schlamm:
  • Das nun wiederum ist komisch. (Tragikomoedie, S. 12 ff)

Wahle lacht nicht nur ueber andere, sondern er gibt seinen Lesern durch alle seine Schriften Anlass ueber ihn zu lachen, wenn er u. a. immer wieder ueber sein Philosophieren behauptet, es sei das einzig wahre bzw. richtige. In Wirklichkeit haelt er das, was er zu sagen hat, fuer Hypothesen, die der Wissenschaft als Projekte dienen sollen. (Ueber den Mechanismus des Geistes, S,3;19.)

Die bisherige Philosophiegeschichte – so Wahle – sei eine Geschichte der Wiederholungen. Diese Philosophien bieten Worte, also Spekulationen, aber keine Hilfe und keinen Nutzen. In anderen Wissenschaften hat man einen Fundus von Kenntnissen und Methoden, nicht so in der Philosophie.

Er wolle mit seiner „definitiven Philosophie“ einen Anfang machen, auf dem ein solcher Fundus geschaffen werden kann.  Die Eigenschaft „definitiv“ verwendet er im Sinne von „wissenschaftlich“. Seine „definitiven Annahmen“ gehen vom neurobiologischen Kenntnisstand seiner Zeit aus.

Definitiv sei „ dass alle empirischen Vorkommnisse nur bei gleichzeitiger Aktion der Nervenapparate vorhanden sind, also, abgekuerzt gesprochen, an den Bestand von Sinnen gekoppelt sind. Es ist somit moeglich, da man es nur mit Relativitaeten zu tun hat, dasz die wahre Natur der Dinge durch die Konkurrenz der Sinne vollstaendig verschleiert ist.“  (Tragikomoedie, S. 86) Die Loesung erkenntnistheoretischer Fragen bleibt daher eine Fata Morgana. 

Mit dem Axiom, dass alles wovon Menschen ausgehen und worauf sie sich beziehen koennen, empirische bzw. sinnliche Vorkommnisse sind, erklaert Wahle fuer null und nichtig:

  • Jede Art von Erkenntnistheorie
  • Jede Art von Materialismus
  • Jede Art von Idealismus

Keine diese drei Bereiche koennen wir mit der wahren Beschaffenheit ihrer Elemente fuellen. Das verhindern unsere Sinne. Diese Unkenntnis (Agnosie) ermoeglicht – entgegen aller traditionellen Befuerchtungen – aber ein forschendes Philosophieren im Rahmen der uns zugaenglichen Vorkommnisse.  

 

Philosophiehistorische Anmerkung:

Der Vergleich mit dem Grundsatz Berkeley’s „Vorhandenes wird wargenommen – Wargenommenes ist vorhanden“ ermöglicht die Vermutung, dass bei unterschiedlichen Termini beide Philosophen von „sensorischen Erlebnissen“ ausgehen, die sie jeweils  „Perzeptionen“ oder „Vorkommnisse“ nennen.  Auch Hume’s Termini  „impressions“ und „ideas“ beziehen sich auf  „sensorische Erlebnisse“. 

 

 

Die Philosophie ist ein Gespenst.

Die Philosophie hat ausgerungen. Wie kann das sein, wenn es doch Philosophen gibt? Nun man kann ja Altes in kleinen Varianten wiederholen, Vergangenes erzaehlen, private Geistreichelei treiben – es ist doch nur ein Scheinleben, ein Gespenst geht um. “ (Tragikomoedie, S. Vf)

Wahle beschrieb die gespenstischen philosophischen Taetigkeiten, als „alte Probleme ausgraben und daran nagen“. 

Er verfasste eine Philosophiegeschichte, die der Aufloesung der Philosophie dienen sollte. Er nannte sie die „Tragikomoedie der Weisheit“, versprach sich aber wenig von deren Nutzen für dieses Vorhaben. Der philosophische Unsinn werde nie dadurch ausgeschaltet, dass er widerlegt wird, er kann nur an sich selber sterben. 

Er wolle dem interessierten Leser aber Material und Beispiele liefern, um sich persoernlich gegen die Übergriffe des sich wiederholenden philosophischen Unsinnes zu verwahren.

„Allen die Unrecht tun, sei verziehen; sie konnten nicht anders, aber der Wissbegierige sei gegen Schwindel geschützt.“ (Tragikomödie, S. 53)

Er bezeichnete philosophische Ansichten jedoch als Unsinn und fügte hinzu, sich nicht an dem „Ausdruck“ zu stören. „Man könnte ja auch noblere Wendungen gebrauchen, wie: nicht ganz durchdacht, kann nicht allgemeine Zustimmung finden, ist nur von teilweiser Berechtigung usw. … oft aber sind solche milden Ausdrücke nur feige Verschleierung der Meinung des Kritikers.

Man darf den Leser nicht darüber in Zweifel lassen, wenn er vor einem vollen Widerspruch, völliger Unbrauchbarekit, Verkehrtheit, eben vor Unsinn steht.“ (Tragikomoedie, S. 56)

Richard Wahle: Tragikomödie der Weisheit. Wien/Leipzig 1925.  

Wahles Kritik der Erkenntnis

Seit Locke hat sich ‚Erkenntnistheorie‘ als Disziplin der traditionellen Philosophie etabliert. Dabei geht es um die Frage, was können wir ‚wissen‘ und wie kommen Menschen zu verlässlichen Erkenntnissen. Kant war einer der letzten, der mit einem ausgeklügelten System die Frage im Sinne von ‚Erkenntnis ist möglich‘ beantwortete. Er gab mit seiner ‚Kritik der reinen Vernunft‘, indem er bekannte Begriffe zerlegte und z. T. verändert anwendete, seinen Lesern viele Probleme auf. Zeitgenossen hielten seine Transzendentalphilosophie für eine gelungene Variante der Lösung des Erkenntnisproblems, die wissenschaftlichen Standard im Kreis anderer Wissenschaften beanspruchen konnte. Es gab aber auch eine Reihe von Widersprüchen, die im wesentlichen bemängelten, dass er das unausgesprochen voraussetzte, was er behauptete bewiesen zu haben. In dieser Hinsicht hatte Kant so etwas wie einen „blinden Fleck“. Und viele, die ihm folgten, schienen unter einer vergleichbaren Blindheit zu leiden. 

Als Wahle Ende des 19. Jahrhunderts zu philosophieren begann, war Kant im deutschsprachigen Raum ein anerkannter und viel interpretierter Philosoph. Wahle  behauptete nun, dass die Sehnsucht nach Wissen unerfüllbar sei. Vor allem neurobiologische Ergebnisse aus der Hirn- und Nervenforschung seiner Zeit sprachen aus seiner Sicht dagegen. 

Er distanzierte sich im Hinblick auf ‚Wissen‘ von vertrauten philosophischen Selbstverständlichkeiten. U. a. von Begriffen wie Materie, Subjekt, Geist, Ich, Bewusstsein, von der Behauptung es gäbe ein ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Aus seiner Sicht führte dies zu Irrtümern, die die tatsächlichen Sachverhalte verbergen. Der grundlegende, tatsächliche Sachverhalt von dem er ausging, waren die ‚Vorkommnisse unter dem Bestand der Sinne‘. Aus den ‚Vorkommnissen‘ können wir schlussfolgern, dass wir etwas vor uns haben, was als Objekt bezeichnet, jedoch nicht bestimmt werden kann. Erinnerungen von und Phantasien aus ‚Vorkommnissen‘ ergeben keine Kenntnisse, die man als Wissen bezeichnen dürfe.

Statt über ‚Geist‘ sprach er von Psychischem. Psychisches sei wie etwas „Gewordenes, Ernährtes und Wurzelndes“. Eine Art Produkt, das erforschbar ist. ‚Geworden‘ heißt: Das Nervensystem ermöglicht uns von Geburt an zu empfinden, d. h. Vorkommnisse zu erleben. Die frühen Vorkommnisse sind Basis unserer Vorstellungen und bahnen unserer ‚geistigen Entwicklung‘. ‚Ernährtes‘ heißt, unser Nervensystem produziert lebenslang Vorkommnisse, mit denen wir unser Leben gestalten. ‚Wurzelndes‘ : Psychisches ist stets mit dem Nervensystem verbunden. D. h. der Mechanismus unseres Denkens bzw. geistigen Lebens ist physiologisch bedingt. Mechanismus meint die chemischen und physikalischen Prozesse unseres Nervensystems.

Dass ohne unser Nervensystem die Welt so ist, wie wir sie mit ihm wahrnehmen, ist eine unbegründete Annahme. Unsere Wünsche nach Wissen sind also vergeblich, weil wir niemals davon ausgehen können ohne unser Nervensystem zu leben. Dies gilt auch für die Verwendung von physikalischen und chemischen Hilfsmitteln: Wir haben stets ‚Vorkommnisse unter dem Bestand der Sinne‘. (Vgl. zum gesamten Abschnitt: Wahle: Über den Mechanismus des geistigen Lebens, S. 34-50)

 

 

Wahles ‚Vorkommnisse‘

‚Vorkommnisse‘ ist kein Kunstwort, sondern aus dem alltäglichen Sprachgebrauch genommen. Was vorkommt, nennt man Vorkommnisse. Davon geht Wahle grundlegend für Denken und Handeln aus. Damit ist jeder, der am Ende der jahrtausendealten Tradition des Philosophierens steht und sich bei Wahle lesend umsieht, erst einmal ins Dunkel geworfen. Die vertrauten Fachwörter für das, was man als Ausgangsbasis fürs Pragmatische – wie auch fürs Theoretische – nimmt – z.B. Bewusstsein, Ich, Geist usw. -, fehlen. 

Viele werden sich damit beruhigen können, dass Wahle dem Materialismus bzw. dem Positivismus zugeordnet wird. Philosophen des Geistes, analytische Philosophen und andere Metaphysiker haben damit nichts zu tun und brauchen sich damit nicht zu beschäftigen. Mehrheitlich ist sich die philosophische Zunft immer noch darin einig, dass ohne ‚Geist‘, ‚Bewusstsein‘ und ‚Ich‘ nicht philosophiert werden kann bzw. darf.

Wahle thematisierte seine ‚Erkenntniskritik‘, aber eigentlich verwirft er Erkenntnis. ‚Vorkommnisse‘ könnte man um- und vorsichtig als ‚erkennbare‘ Produkte bezeichnen, deren Haupteigenschaft darin besteht, dass sie vorhanden sind. Wahle verwirft Ursachen und dennoch nennt er ‚Urfaktoren‘ als das, was vor jedem ‚Vorkommnis‘ , vor jedem ‚hören‘, ’sehen‘ und ‚berühren‘ wirklich da ist. Er konstruiert zwischen ‚Urfaktoren‘ und ‚Vorkommnissen‘ eine wechselseitigen Wirkzusammenhang. Mit den ‚Vorkommnissen‘ geschieht Veränderung und Umgestaltung, dies entspricht der von Urfaktoren bewirkten Aktivität von Sinnen und Gehirn.

Einen etwas anderen Zusammenhang als die traditionellen Philosophen hat auch  David Hume vor Jahrhunderten beschrieben, wenn er Kausalität thematisierte. Er sprach dabei von ‚Ereignisfolgen‘. Ähnlich wie Wahle bemühte sich Hume so, der  Unterstellung zu entgehen, eine neue Kausalitätstheorie postuliert zu haben, wie es sich aus üblicher Sicht nahe legt.     

Zu den ‚Urfaktoren‘ haben wir keinen Zugang: Wir haben keine Ahnung wie sie sind und welchen Anteil ihre Wirklichkeit an unserer Wirklichkeit hat. Dass es Urfaktoren geben muss, ist lediglich eine Schlussfolgerung aus dem, dass es ‚Vorkommnisse‘ gibt. Möglicherweise ist es die Art dieser Schlussfolgerung, die viele veranlasste, ihn als Positivisten zu bezeichnen. Was auch immer in seinem Philosophieren damit bezeichnet wird. Mich kann man da nicht fragen. Ich habe genauso wenig Ahnung wie Wahle, wie die traditionelle Philosophie Kategorien jedwelcher Art festlegt.

„Wir haben absolut kein Recht zu der Annahme, dass die an sich bestehende wahrhafte Welt der subjektiven, phänomenalen, optisch-taktilen in irgendwelcher Form gleich oder ähnlich sei.“ (Mechanismus S. 42.) Berechtigt aber sei die Annahme, dass es Urfaktoren gebe, über die wir nichts weiter wissen.

Wer beim ersten Lesen ungeduldig wird, für den hier ein Hinweis von Wahle: ‚ Das, was ich sagen möchte, ist leichter zu kritisieren als zu kapieren.‘ (Vgl. Mechanismus S. 35.)

 

Richard Wahle (1857 – 1935)

In den mir bekannten deutschen Philosophiegeschichten wird er nicht erwähnt. Eine Ausnahme ist das Philosophen-Lexikon von  Rudolf Eisler, der ihn mit einem sachlich relevanten  Artikel würdigte. Wahle philosophierte ausgehend von ‚Vorkommnissen‘. Diese ‚Vorkommnisse‘ ereignen sich stets unter Mitwirkung des Nervensystems. Letzteres bezeichnete er auch mit „Sinne und Gehirn“. Er ist also einer der seltenen Philosophen, die die das menschliche Handeln physiologisch auffassen. Diese Seltenheit hat wohl auch dafür gesorgt, dass man ihn nicht kennt. Da habe er noch Glück gehabt, schrieb der Zeitgenosse Erwin Ritter von Zach (1872-1942), eigentlich habe er damit rechnen können, dass man ihn steinige. Zumal Wahle die ganze akademische philosophische Zunft angegriffen habe, weil er davon ausging, dass ‚Wissen‘ nicht gehe und daher Wissenschaft nichts tauge. Diese Untauglichkeit attestierte er vor allem der Philosophie, die es im Laufe der Geschichte nicht geschafft habe, eine Wissenschaft einzurichten, die Kenntnisse und Methoden vermitteln könne.

Seinen von ihm veröffentlichten Bericht über die Geschichte der Philosophie nannte er ‚respektlos‘: Er kam zu dem Schluss, dass die Philosophie ‚ausgerungen‘ hat.Er nannte sie einen ‚Irrgarten‘, in dem irrtümlicherweise immer noch viele etwas Brauchbares zu finden hoffen, weshalb die alte Philosophie nicht tot zu kriegen sei. Für ‚haltbar‘ kam für ihn nur folgendes  Minimum in Frage: Die bereits erwähnten ‚Vorkommnisse‘ und Erinnerungen, für die Wahle auch den Terminus ‚Mineaturen‘ verwendete. ‚Vorkommnisse‘ charakterisierte er als ‚flächenhaft‘. Auch Berkeley  hatte bereits bestritten, dass die Fähigkeit zu dreidimensionalem Sehen ein Behauptung sein dürfte, die sich bei näheren Untersuchungen nicht bestätige. Irrtümliche Behauptungen nannte Wahle gelegentlich „Lüge“. Die übliche moralische Herabsetzung Andersdenkender könnte Anlass für diese Wortwahl gewesen sein: die ansonsten nicht zu seinem Denken und Hinsehen passt.

Liste der Veröffentlichungen von Richard Wahle bei Wikipedia.  

 

Sehen heißt ‚wirklich unmittelbar zu sehen glauben‘,

so soll Friedlich Wilhelm Schlegel (1772-1829) sich in seinen ‚Vorlesungen zur Aesthetik‘ kritisch ueber den nicht nur zu seiner Zeit weit verbreiteten Irrtum zum ’sehen‘ geaeuszert haben. Schlegel hielt folgendes fuer zutreffend: „Das Auge sieht nicht Gegenstaende, es sieht Farben; und es sieht nicht raeumlich sondern flaechig. Nur der alltaegliche Umgang mit den Dingen und die Zusammenarbeit mit den anderen Sinnen machen es dem Menschen moeglich, die Welt als Welt zu erfassen. Einmal an diese begriffene Welt gewoehnt, vergisst er sein erstes Sehen: ‚Im gewoehnlichen Leben, wo wir Geschaefte an und mit den Gegenstaenden vorhaben, vergessen wir oft den Schein ganz und gar, und glauben die Gegenstaende so zu sehen, wie sie nach unsrer Bekanntschaft mit ihnen sind‘. „ (Roland Borgards: Die Wissenschaft vom Auge und die Kunst des Sehens. In: Thomas Lange u. Harald Neumeyer (Hrsg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Wuerzburg 2000, S. 52f.)

Ich bin immer wieder positiv ueberrascht, wenn ich bei metaphysisch denkenden Philosophen, skeptische Elemente entdecke. Vielen Lesern ist vermutlich die Zeichnung von Descartes (1596-1650) bekannt – falls nicht, hier klicken– in der er ’sehen‘ mit Hilfe einer geometrischen Darstellung schematisiert. Schlegel thematisiert ’sehen‘ hier aus skeptischer Sicht, die im Ergebnis an die Darstellung von  Ernst Mach (1838-1916) erinnert . Und es erinnert auch an David Hume (1711-1776), wenn Schlegel beschreibt, dass wir Menschen die Dinge so zu sehen glauben, wie wir sie kennen, also wie wir es gewohnt sind zu tun. Wir legen etwas in das, was wir sehen hinein, was wir nicht sehen. Diesen Vorgang hat David Hume mit dem Wort ‚understanding‘ bezeichnet, das im Deutschen gewohnheitsmaeszig  mit ‚Verstand‘ wiedergegeben wird.

Ist es also der ‚Verstand‘ der uns Irrtuemer unterschiebt, weil wir mit Hilfe seiner Begriffe Gewohntes hineininterpretieren, was gar nicht zu sehen ist? Kant haette dem heftig widersprechen muessen, wenn sein transzendentalphilosophischer Ansatz wenigstens ein bisschen von der Geltung beanspruchen soll, die er ihm zubilligte. Naemlich die Hoffnung auf ‚wissen‘. Wenn jemand blosz hofft zu wissen, dann weisz er aber nichts. Doch das waere fuer die Transzentalphilosophie wiederum zu wenig. Was also ist mit ihrer Hilfe zu gewinnen?

Ich denke eigentlich nichts. Sie ist eher der gelehrte Versuch, Nicht-Wissen zu thematisieren ähnlich wie es mittelalterliche Theologen wie Johannes Eruigena (ca. 810 – ca. 880) vor Jahrhunderten taten und damit der Behauptung widersprach, Menschen wüssten etwas über Gott,. Wenn selbst selbst professionelle Wahrheitsglaeubige wie Kant und Eriugena ‚wissen‘ verneinen, wieso machen Philosophen nicht mehrheitlich davon Gebrauch, ‚wissen‘ wollen als Tagtraeumerei aufzufassen und sich mit leichtem Herzen, dem Reichtum der Skepsis hinzugeben, fuer den sie schon von Augustin Thagaste (354-430) gewuerdigt worden war?

Ich fuerchte, es koennte eine (Ver)Teufelei von Seiten kirchlicher Autoritaeten dahinter stecken, die den Philosophen als ‚heiliger Schrecken‘ trotz Aufklaerung immer noch in den Knochen steckt.

Wir hören und hören doch nicht


Aus Fritz Mauthners philosophischen Nachdenklichkeiten:



„Ein lehrreiches Beispiel dafür, wie unvollständig wir hören, erlebte ich einmal in Nizza. Ich ging im Jardin public in deutschen Gedanken verloren umher. Dabei glaubte ich von Zeit zu Zeit den Berliner Straßenruf zu hören: „Fliegenstöcker“. … Ich blicke auf, sehe wo ich bin und weiß sofort: ich kann hier in Frankreich unmöglich „Fliegenstöcker“ rufen gehört haben. Nun lausche ich aufmerksam darauf, was wohl so ähnlich geklungen haben mag. Wieder ertönt der Ruf. Ich glaube jetzt schon undeutlicher etwas zu vernehmen, was wie „Fliegenstöcker“ klingt; aber nur ähnlich. Wieder ertönt’s. Jetzt unterscheide ich nur noch eine musikalische Tonfolge von drei bis vier Silben und in der ersten Silbe ein langgezogenes i. Ich übe mich nun darin, nach meinem Belieben „Fliegenstöcker“, „Niederwald“ oder „Mittagessen“ in den Ruf hinein zu hören. Das gelingt mir vollkommen. Heraushören kann ich aber kein französisches Wort. Nun gehe ich dem Schalle nach in eine Nebenstraße. So wie ich den Mann erblickt habe, einen „fliegenden“ Glaser, deute und höre ich sofort den richtigen Ruf: „au vitrier“.

Ich habe selbst nie einen Fall beobachtet, aus dem man besser lernen könnte, wie wir gewöhnlich hören. Alles ist ein à peu pres. Wir raten. Vielleicht erhalten wir sogar beim Hören noch weniger Laute zur Kenntnis als Buchstaben beim Lesen. Die Assoziation der Vorstellungen, also unsere Gewohnheit, leistet die Hauptarbeit. Im Verlaufe eines längeren Gespräches oder Geschwätzes verstehen wir jedes Wort des andern. Bei seinem plötzlichen Anruf aber, besonders in einer fremden Sprache, sind wir ratlos, wir haben noch keinen Assoziationskern.“

Fritz Mauthner: Zur Sprachwissenschaft IX. Tier- und Menschensprache: „Vitrier“

 

Assoziationen von amruthgen:

Vor Jahrzehnten lag ich an einem sehr warmen, dämmrigen Sommerabend im Bett und hing den Ereignissen des Tages hinterher. Die Eltern hatten uns ins Bett geschickt. Ich hörte das gleichmäßige Atmen meiner beiden jüngeren, bereits schlafenden Schwestern. Das Fenster stand offen. Das beunruhigte mich etwas, weil es nur wenig über dem Grund außerhalb lag. Ich lauschte nach draußen. Da hörte Ich jemanden meinen Namen rufen. Olli von nebenan? Zuerst zögerte ich, dann sah ich hinaus: Weit und breit niemand zu sehen. Was hatte ich da gehört? Beim ‚wundern‘, bin ich dann eingeschlafen.

Mein Interesse fuer Bataille …

… ergab sich, als ich an einem philosophischen Artikel fuer Wikipedia arbeitete. Der Bataille-Artikel, auf den ich dabei stiesz, war ziemlich unvollstaendig und die philosophischen Teile fuer einen Leser ohne Kenntnisse von Batailles Schriften wenig nachvollziehbar.

Waehrend der Lektuere von Michel Suryas Bataille-Biographie entstand mein erster Eindruck – der sich durch weitere Lektueren bestaetigte -, dass Batailles ’schreiben‘ und ‚denken‘ in sehr ausgepraegter Weise mit dem ersten Fünftel seines Lebens zusammenhing.  Es gibt Philosophen, bei denen sich kaum Spuren derartiger Zusammenhaenge finden.  Bataille thematisierte diesen Zusammenhang. Seine Schriften sind zwar nicht direkt autobiographisch, aber sie nähren sich von seinem Leben, meinte Ian Pindar, Rezensent beim Guardian.

Mein erstes Resuemee war: Es gibt Menschen die erleiden ein Schicksal, das sie dem Chaos aussetzt. Sie arrangieren sich mit diesem Chaos und orientieren sich, indem sie sich z. B. ihr eigenes Utopia erfinden. Georges Bataille scheint zu diesen gehoert zu haben. Er erfand ein unverwechselbares ‚philosophieren‘ innerhalb von Dichtung und Wissenschaft. Die surrealistische Bewegung bot ihm vermutlich einen gesellschaftlich minimal akzeptierten Rahmen, dieses ‚philosophieren‘ in einem Kreis von anderen ‚Utopianern‘ zu tun – ‚Utopisten‘ passt nicht, das Wort hat die Mitbedeutung von Menschen, die eigentlich ueberfluessig sind. Bataille soll sich – nach Auskunft der zwei Biographen Michel Surya und Stuart Kendall – eine Zeitlang in der experimentierfreudigen Gruppe um Alfred Metraux, André Masson, Joan Miró und Michel Leiris sehr wohl gefuehlt haben.

Das Chaos seiner Erlebnisse ergab bestimmte Erfahrungen – Rolf Reinhold bezeichnet – fuer mich sehr brauchbar – ‚Erfahrungen‘, als Schlussfolgerungen aus dem, was ein Mensch erlebt hat. Diese Erfahrungen lieszen Ideen fuer die folgenden, zwei groszen Vorhaben entstehen,

  • 1. … in allem das Gegenteil zu tun und zu denken, was sein Vater getan und gedacht hatte.
    2. … die Gesamtheit aller Arten menschlichen Verhaltens zusammen mit natuerlichen Ablaeufen komplett und umfassend darzustellen.

Keines dieser beiden Vorhaben setzte er vollstaendig um. Mehrere Jahre lang beschaeftigte er sich intensiv mit dem christlichen Glauben. Er wartete auf einen göttlichen Ruf, um Mönch oder Priester zu werden. Er wartete vergeblich. Er fand im christlichen Glauben überhaupt keine Orientierung fuer sein Handeln. Wie seinem Vater blieb Bataille der Zugang zum christlichen Glauben verschlossen. Beim Studieren der Religionsgeschichte fand er dennoch Anregungen fuer sein ‚denken‘.

Die Gesamtheit menschlichen und natuerlichen Lebens, die „Totalitaet des Seins“ entglitt ihm beim ’schreiben‘, was ihm vorgeworfen wurde. Genauso unpassend wäre es, ihm vorzuwerfen, dass er bis ans Lebensende in panischen Schrecken geriet, wenn er sich an seine Kindheit erinnerte.  Die Vielzahl aller Aspekte des Lebens mit einem Blick zu erfassen, halte ich fuer ein XXXL, typisch jugendliches Vorhaben. Hier verschaetzte er seine Faehigkeiten und Kapazitaeten. Ich gehe sogar davon aus, dass Menschen prinzipiell nicht in der Lage sind, eine derartige umfassende XXXL- Sicht – einschlieszlich aller Details – zu bilden. Das macht mich so skeptisch gegen Theorien, mit denen Menschen die Welt verbessern moechten. Bataille machte aus seinen Problemen mit einer umfassenden Theorie eine Tugend und aeuszerte, dass er so seine Souveraenitaet bewahre. Ausrede? Möglich. Für mich handelt es sich eher um die begrenzten Moeglichkeiten sprachlicher Kommunikation, die Bataille als ’schwache Kommunikation‘ bezeichnete.

Alles, was moeglich ist, in die Gesamtheit, in die „Totalitaet seines Seins“ zu integrieren, scheint mir ein charakteristisches Merkmal von Batailles ‚denken‘ zu sein. Ich sehe seine ’neuen Mythen‘, die er erfand, damit im Zusammenhang stehend. Mythen haben den Vorteil, dass sie „alles Moegliche“ verborgen hinter Metaphern mitmeinen und so eine maximale Zahl an Interpretationen zulassen. Als Beispiel ein Satz aus Der Schlieszmuskel der Sonne (L’anus solaire, 1927): „Der grosze Koitus mit der himmlischen Atmosphaere wird durch die Laufbahn der Erde um die Sonne bestimmt.“ Diese Dichtungen mit der Natur wirken auf mich reizvoll. Sie reduzieren außerdem komplexe Zusammenhänge auf ein überschaubares Bild. Und diese Bilder sind Geschichten, die Menschen sich erzählen. Mythen sind Geschichten, die durch Hörensagen umherlaufen. Bataille wollte das gemeinsame Wirken rationaler und irrationaler Elemente in der Welt darstellen. Dazu passend sollte eine neue „mythologische Anthropologie“ nach Art des oben zitierten Satzes entstehen, in der er irrationale Hypothesen darstellen wollte. Auch diese Idee umzusetzen, ist ihm nur in Ansaetzen (Der verfemte Teil,1949.) gelungen. Doch ich finde es anregend und menschlich, wenn Menschen Unvollstaendiges schreiben. Dies kommt meinem philosophisch begruendeten Vorurteil zugute, dass Menschen nie damit fertig werden, die Dinge so zu sehen, wie sie ihnen erscheinen. Da die Menschen und die Dinge sich staendig aendern, aendern sich menschliche Sichten. Um dagegen fertige Sichten zu produzieren, etwas abschließend zu behandeln, müssen Menschen dogmatisch denken, was Bataille nicht getan hat.

„Schreiben heißt, das Glueck suchen. Das Glueck belebt die kleinsten Teile des Universums: das Funkeln der Sterne ist seine Kraft, eine Feldblume sein Zauberspruch. … Der Zipfel des Gluecks ist von der Traurigkeit der Geschichte des Auges (1928) verschleiert. Ohne diese Geschichte waere er unerreichbar.“ (Das obszoene Werk, S. 190.)