Reproduktion alter Lehren bei Kant

 

Wahle schaetzte Philosophen, wenn sie ‚originelle Fragen und Loesungen erfinden’. Alle anderen brauche man eigentlich gar nicht zu erwaehnen, fuegte er hinzu. Kant fiel zuerst dadurch auf, dass er an einer Hochschule  – wenn auch vorsichtig – zunaechst verkuendete, dass weder Gott noch die Seele beweisbar sind. Damit schwamm er im Strom seiner Zeit, aus dem er sich aber wieder zurueckzog.

Wer sich in der Philosophiegeschichte auskennt, findet bei Kant nur laengst bekannte Ideen und scholastische Unterscheidungen, so Wahle in seiner „Tragikomoedie der Philosophie“. Der Zeitgeist wurde jedoch von neuen Gedanken und Ideen gepraegt. Im 18. Jahrhundert habe sich die philosophische Welt beim Grossteil der Gebildeten materialistisch und atheistisch veraendert. Deismus, Religionskritik , historische Forschungen und Philosophien wie die von Lamettrie, Helvetius , Holbach, D’Alemberts, Diderot, Cudworth, Voltaire, Rousseaus gehoerten zu diesen Veraenderungen und verbuendeten sich mit denen des allgemeinen Weltbildes.

Vor Kant hatte bereits Locke die Vernunfttaetigkeit analysiert und festgestellt, dass einzig die sinnliche Wahrnehmung  menschliches Denken bestimmt und daher Grundlage wissenschaftlicher Forschung sein müsse.  Hume hatte sich Locke’s Analyse angeschlossen.  Hinsichtlich der Unerkennbarkeit des Dinges an sich, der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit hatte er Locke’s Analyse konsequent zu Ende gefuehrt. Kant war daher nicht der erste, der die Vernunft analysierte. Seine „kopernikanische Wende“, die er als seine Idee ausgab, hatten bereits andere vollzogen.  

Kant habe sich seinen Vorgaengern einerseits angeschlossen, indem er forderte, dass man beim Denken und Forschen von den Sinnen ausgehen muesse; aber seine Unfreiheit gegenueber seinen von Kindheit an pietistisch gepraegten Beduerfnissen veranlasste ihn, gleichzeitig metaphysischen Neigungen nachzugehen. Er griff so zusaetzlich zu entgegengesetzten Auffassungen hauptsaechlich zu denen von „Wolff = Aristoteles“, Leibniz und Baumgarten, bei denen er auch die Instrumente  fand, um seine „Analyse der Vernunft“ umfassend durchfuehren zu koennen. So verwendete er „die alten angeborenen Ideen und Saetze“ und stattete damit im Sinne von Leibniz bzw. von Platon die Seele aus. Sie dienten ihm zur Begruendung der Transzendalität der reinen Vernunft und der reinen Begriffe. Bei Baumgarten fand er die zahlreichen differenzierenden Begriffe, logischen und psychologischen Einteilungen, die sein Unternehmen so umfassend erscheinen lassen.

An Kants Lehre sei nichts originell und an seinen scholastischen Formulierungen fast nichts, fasste Wahle seine Beschreibungen zusammen. Originell seien seine Termini. Kant nannte seine Art der „Ueberschreitung der Erfahrung“ „transzendental“, behauptete, dass der „Idealismus eine Grundbegabung des Menschen“ sei und nannte daher das, was er tat „transzendentaler Idealismus“. Das war ein neuer Terminus, aber die Sache gab es schon vorher. Historiker trugen dazu bei, „eine Neuheit des Standpunktes vorzutaeuschen“, indem sie neue Systematisierungen einrichteten und neue ‚ismen“ schufen. Doch Kants Lehre bleibe „immer nur eine Reproduktion alter Lehren.“

Trotz seiner Kritik wuerdigt Wahle ihn.

Kant ist als Person ehrwuerdig durch seinen Ernst, seinen  Wahrheitsdrang, als Friedensherold, durch die fleiszige, ausdauernde, wenn auch an Vorbilder sich anschlieszende, umsichtige Administration seines Systems, durch unterscheidungsfrohen Scharfsinn, durch sein erhabenes Pflichtgefuehl, durch seine gelegentlich hervorbrechende Redekraft – aber das muss unserer auf die originellen Progresse der Philosophie bedachten Darstellung so gleichgueltig sein, als es ihr gleichgueltig sein muesste, wenn er ein Spitzbube gewesen waere.

 

Vgl. Wahle: Tragikomoedie der Weisheit, S. 323-330.

Die Philosophie ist ein Gespenst.

Die Philosophie hat ausgerungen. Wie kann das sein, wenn es doch Philosophen gibt? Nun man kann ja Altes in kleinen Varianten wiederholen, Vergangenes erzaehlen, private Geistreichelei treiben – es ist doch nur ein Scheinleben, ein Gespenst geht um. “ (Tragikomoedie, S. Vf)

Wahle beschrieb die gespenstischen philosophischen Taetigkeiten, als „alte Probleme ausgraben und daran nagen“. 

Er verfasste eine Philosophiegeschichte, die der Aufloesung der Philosophie dienen sollte. Er nannte sie die „Tragikomoedie der Weisheit“, versprach sich aber wenig von deren Nutzen für dieses Vorhaben. Der philosophische Unsinn werde nie dadurch ausgeschaltet, dass er widerlegt wird, er kann nur an sich selber sterben. 

Er wolle dem interessierten Leser aber Material und Beispiele liefern, um sich persoernlich gegen die Übergriffe des sich wiederholenden philosophischen Unsinnes zu verwahren.

„Allen die Unrecht tun, sei verziehen; sie konnten nicht anders, aber der Wissbegierige sei gegen Schwindel geschützt.“ (Tragikomödie, S. 53)

Er bezeichnete philosophische Ansichten jedoch als Unsinn und fügte hinzu, sich nicht an dem „Ausdruck“ zu stören. „Man könnte ja auch noblere Wendungen gebrauchen, wie: nicht ganz durchdacht, kann nicht allgemeine Zustimmung finden, ist nur von teilweiser Berechtigung usw. … oft aber sind solche milden Ausdrücke nur feige Verschleierung der Meinung des Kritikers.

Man darf den Leser nicht darüber in Zweifel lassen, wenn er vor einem vollen Widerspruch, völliger Unbrauchbarekit, Verkehrtheit, eben vor Unsinn steht.“ (Tragikomoedie, S. 56)

Richard Wahle: Tragikomödie der Weisheit. Wien/Leipzig 1925.  

Wahles Kritik der Erkenntnis

Seit Locke hat sich ‚Erkenntnistheorie‘ als Disziplin der traditionellen Philosophie etabliert. Dabei geht es um die Frage, was können wir ‚wissen‘ und wie kommen Menschen zu verlässlichen Erkenntnissen. Kant war einer der letzten, der mit einem ausgeklügelten System die Frage im Sinne von ‚Erkenntnis ist möglich‘ beantwortete. Er gab mit seiner ‚Kritik der reinen Vernunft‘, indem er bekannte Begriffe zerlegte und z. T. verändert anwendete, seinen Lesern viele Probleme auf. Zeitgenossen hielten seine Transzendentalphilosophie für eine gelungene Variante der Lösung des Erkenntnisproblems, die wissenschaftlichen Standard im Kreis anderer Wissenschaften beanspruchen konnte. Es gab aber auch eine Reihe von Widersprüchen, die im wesentlichen bemängelten, dass er das unausgesprochen voraussetzte, was er behauptete bewiesen zu haben. In dieser Hinsicht hatte Kant so etwas wie einen „blinden Fleck“. Und viele, die ihm folgten, schienen unter einer vergleichbaren Blindheit zu leiden. 

Als Wahle Ende des 19. Jahrhunderts zu philosophieren begann, war Kant im deutschsprachigen Raum ein anerkannter und viel interpretierter Philosoph. Wahle  behauptete nun, dass die Sehnsucht nach Wissen unerfüllbar sei. Vor allem neurobiologische Ergebnisse aus der Hirn- und Nervenforschung seiner Zeit sprachen aus seiner Sicht dagegen. 

Er distanzierte sich im Hinblick auf ‚Wissen‘ von vertrauten philosophischen Selbstverständlichkeiten. U. a. von Begriffen wie Materie, Subjekt, Geist, Ich, Bewusstsein, von der Behauptung es gäbe ein ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Aus seiner Sicht führte dies zu Irrtümern, die die tatsächlichen Sachverhalte verbergen. Der grundlegende, tatsächliche Sachverhalt von dem er ausging, waren die ‚Vorkommnisse unter dem Bestand der Sinne‘. Aus den ‚Vorkommnissen‘ können wir schlussfolgern, dass wir etwas vor uns haben, was als Objekt bezeichnet, jedoch nicht bestimmt werden kann. Erinnerungen von und Phantasien aus ‚Vorkommnissen‘ ergeben keine Kenntnisse, die man als Wissen bezeichnen dürfe.

Statt über ‚Geist‘ sprach er von Psychischem. Psychisches sei wie etwas „Gewordenes, Ernährtes und Wurzelndes“. Eine Art Produkt, das erforschbar ist. ‚Geworden‘ heißt: Das Nervensystem ermöglicht uns von Geburt an zu empfinden, d. h. Vorkommnisse zu erleben. Die frühen Vorkommnisse sind Basis unserer Vorstellungen und bahnen unserer ‚geistigen Entwicklung‘. ‚Ernährtes‘ heißt, unser Nervensystem produziert lebenslang Vorkommnisse, mit denen wir unser Leben gestalten. ‚Wurzelndes‘ : Psychisches ist stets mit dem Nervensystem verbunden. D. h. der Mechanismus unseres Denkens bzw. geistigen Lebens ist physiologisch bedingt. Mechanismus meint die chemischen und physikalischen Prozesse unseres Nervensystems.

Dass ohne unser Nervensystem die Welt so ist, wie wir sie mit ihm wahrnehmen, ist eine unbegründete Annahme. Unsere Wünsche nach Wissen sind also vergeblich, weil wir niemals davon ausgehen können ohne unser Nervensystem zu leben. Dies gilt auch für die Verwendung von physikalischen und chemischen Hilfsmitteln: Wir haben stets ‚Vorkommnisse unter dem Bestand der Sinne‘. (Vgl. zum gesamten Abschnitt: Wahle: Über den Mechanismus des geistigen Lebens, S. 34-50)

 

 

Bataille: Entstellungen des Schreckens

„Meine Kindheitserinnerungen werden nur noch ‚entstellt‘ lebendig und darstellbar. Sie erhalten auf diese Weise einen ‚obszoenen Sinn‘.“, schrieb Bataille in Das obszoene Werk (S. 52).

Nur selten – in kleinen Gedichten am Rande und Reminiszenzen zu seinen obszoenen Texten – gelang es Bataille Entstellendes zu kommentieren und darueber zu reflektieren, wie seine literarischen Aeuszerungen zu seinem (Er)Leben passen. Man kann den Menschen nicht raten, Vorurteile aufzugeben, ueberlegte er. Denn diese Vorurteile sind Ergebnisse einer kulturellen Leistung, die sensible und intelligente Menschen geschaffen haben. Und nun verlange man von ihnen einzugestehen, dies sei eine Dummheit gewesen? Das funktioniere nicht. Sensibilitaet und Intelligenz setzten Schrecken und Anziehung der Erotik erst in Gang. Er wolle den Leser in seinen obszoenen Schriften entdecken lassen, ‚wie die Erotik die bewusste Einstellung aufzureiszen vermag‘ (S. 58f). Er ertrug sein Denken ueber Tod und Exzess und Sexualitaet kaum. Immer wieder wurde mir das Lesen unertraeglich. Er vernichte sich beim Schreiben selber. Im Exzess, in der Zusammenschau aller Aspekte von Tod und Sexualitaet fand er nichts wieder, auch Gott nicht (60).

„Ich bin keineswegs geneigt, die Wollust fuer das Wesentlichste auf der Welt zu halten. Der Mensch ist nicht auf das Organ der Lust beschraenkt. Aber dieses Organ lehrt den Menschen (s)ein Geheimnis, das man nicht eingestehen kann. | Es gibt keinen Grund, der sexuellen Liebe eine Bedeutung zuzuschreiben, die nur das gesamte Leben besitzt …“ (S. 60f) Es war mir moeglich, ueber diese Totalitaet zu sprechen. Doch das, was ich sagen wollte, entglitt mir, wenn ich die Grenzen ueberschritt, innerhalb derer ich in geordneten Saetzen schrieb. Auf diese Weise erhielt ich mir meine Souveraenitaet (62).

„Gott ist das Grauen in mir ueber das, was war,
ueber das, was ist, und ueber das, was sein wird,
so GRAUENHAFT war, ist und sein wird,
dass ich es um jeden Preis leugnen
und mit aller Kraft schreien sollte,
ich leugne, dass es so war, dass es so ist
und dass es so sein wird,
aber ich werde luegen.“
(90)

Bataille wurde lebenslang von Erinnerungen an den erschreckenden, koerperlichen Zustand seines Vaters und dessen Leiden gequaelt. Sein Leben begann mit dem Tod, schrieb sein Biograph Michel Surya. Hinzu kamen Erinnerungen an Kindheitserlebnisse in Verbindung mit heterogenen, d. h. gesellschaftlich verachteten Auffassungen von Sexualitaet, die er in Das obszoene Werk thematisiert, ohne zu sagen, so war es. ‚Ich bin ein Kind des Schreckens.‘ (81) kommentierte er seine Erinnerungen und ‚ich hatte vor allem Sexuellen Angst‘.(7)

Georges Bataille und Marion Luckow: Das obszoene Werk. Reinbek b. Hamburg 2012, 22. Auflage. (Die Ziffern im Text beziehen sich auf Seiten dieser Ausgabe.)

Wer sich im Besitz der Wahrheit glaubt, …

moechte ‚recht haben‘, moechte ‚beweisen‘, dass nur seine Sichtweise die ‚richtige‘ ist. Gegen andere Sichtweisen muss er sich verwahren. Skeptische Philosophen koennen Irrtuemer einraeumen. Sie gingen und gehen davon aus, dass ‚richtig‘ und ‚wahr‘ Kriterien sind, ueber die niemand verfuegt – auch sie nicht. Fuer Skeptiker ist ‚recht haben wollen‘ und ‚beweisen wollen‘ eine Art Sackgasse. Fuer sie folgt aus ihrer skeptischen Praxis des Hinsehens, ’sich eines abschlieszenden Urteils zu enthalten‘. Jedes Hinsehen ergibt in aller Regel immer wieder einen neuen, bzw. etwas anderen Aspekt, auch wenn der neue sich nur minimal von dem Vorhergehenden unterscheidet. Diese durch Hinsehen entstehende Vermehrung von Unterschieden macht die Differenziertheit und die Qualitaet von Sichtweisen aus, die jeder autonom erheben kann. Dies zeigen z. B. Aeuszerungen von Menschen ueber die unterschiedlichsten Lebensbereiche, in denen sie professionell taetig sind bzw. waren.

Der Rat ‚immer wieder hinzusehen‘ fuehrte bereits in der Antike zu Missverstaendnissen. Viele Zeitgenossen des Pyrrhon – allen voran die Stoiker – stieszen sich an der Idee der Enthaltung und unterstellten dem, der dieser Idee folgte, dass er lebensuntuechtig sein muesse. Sie gingen zurecht davon aus, dass jeder Mensch handeln muss. Sich eines Urteils zu enthalten, schien ihnen unmoeglich. Dies entspricht durchaus dem, was skeptische Philosophen sowie Neurowissenschaftler inzwischen annehmen: „Unsere physiologische Natur bestimmt nach Gesetzmaeszigkeiten, die wir nicht kontrollieren koennen, dass wir gar nicht anders koennen, als Urteile zu faellen, so wie wir automatisch atmen und wahrnehmen“ (Hume Treat. I,4,1,7.) Daraus zu folgern, dass die Notwendigkeit des momentanen ‚handeln‘ und ‚urteilen‘ dauerhafte Urteile notwendig mache, ist das seit Jahrhunderten gebraeuchliche explizite und implizite Missverstaendnis, das Skepsis abwehrte, sie ungeeignet fuers Philosophieren hielt und Skeptiker der Laecherlichkeit preisgab. Ueber den in vielen Feldzuegen erprobten Pyrrhon wurde u. a. die Laecherlichkeit erzaehlt, dass er nur in Begleitung einer Magd sein Haus verliesz, um wieder nach Hause zu finden. Menschenwissenschaftler unter den Philosophen – wie Hume – bemuehten sich ohne groszen Widerhall darum, dieses Missverstaendnis auszuraeumen: „Niemand duerfte je einen so laecherlichen Menschen getroffen oder mit einem verkehrt haben, der handelnd oder forschend keiner Vorstellung bzw. keiner Annahme ueber das gefolgt waere, was er zu erreichen hoffte.“ (Hume, Enquiry, XII, 2.)

Handlungsbeduerfnisse, die aus menschlichen Grundbeduerfnissen entstehen, sind in der metaphysisch orientierten Philosophie nicht gruendlich mitbedacht worden. Kant z. B. hat Kritik anderer an der praktischen Mangelhaftigkeit seiner Ethik stets abgewehrt und darin keinen Anlass gesehen, sein apriorisches Konzept zu ueberpruefen, bzw. es zu revidieren. (Vgl. die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kant und Ulrich. Kant: Metaphysische Anfangsgruende der Naturwissenschaften. In: Akademieausgabe von Kants gesammelten Werken, Bd. IV, S. 474/6. Christian Jakob Kraus: Rezension zu Ulrichs ‚Eleutheriologie‘, In: Akademieausgabe von Kants gesammelten Werken, Bd. VIII, S. 451ff.) Diese strukturell vorhandene Abwehr in der Philosophie gegen die Beschaeftigung mit Konkretem hat ‚philosophieren‘ in Verruf gebracht. Die Philosophie, so wie sie sich noch heute mehrheitlich als ‚Analytische‘ praesentiert, stoeszt einen eigenstaendig philosophierenden Jedermannphilosophen vor den Kopf. Ich frage mich dabei nach dem Interesse dieser Philosophen und dem Nutzen dieses Philosophierens.

Jahrhundertlange Uebungen in Wahrheitsdiskussionen, die man um der Wahrheit willen fuehrte, haben ferner dazu gefuehrt, dass skeptisches Philosophieren in Skeptizismus umgemuenzt wurde. Die Bedeutung „zweifeln“ beherrscht bis heute die entstellende neuzeitliche Auffassung der Skepsis. ‚Zweifeln‘ war keine Mitbedeutung antiker Skepsis gewesen. Zweifel an Dogmen sind und waren stets Merkmale religiöser Auffassungen. Sie ergaben sich ausgepraegt als Folge von ‚forschen‘ im Mittelalter und in der Neuzeit. Die Art von Enthaltung wie sie antiken Menschen nahe war, kann sich heute noch in der Redewendung „Da bin ich skeptisch!“ aeuszern. Menschen – so Hume’s Sicht – brauchen nicht zu fuerchten, aus ihrer Skepsis Nachteile zu ziehen. Sie haben physiologisch wirksame Hemmungen gegen den Skeptizismus, denn sie orientieren sich an ihren Lebensbeduerfnissen. „Wir sollten in allen Wechselfaellen des Lebens stets skeptisch bleiben. Glauben wir z. B. dass Feuer waermt und Wasser kuehlt, so liegt das lediglich daran, dass jede andere Sichtweise viel zu schmerzhafte Nachteile hat.“ (Hume, Treatise, 1,4,7,11)

Wenn die Wahrheit unerfahrbar ist …

… dann macht es eigentlich keinen Sinn, recht zu haben oder ueberzeugen zu wollen. Aber muss es nicht so etwas wie Wahrheit, etwas Gleichbleibendes geben, etwas von dem aus Menschen verlaesslich handeln koennen? Dieses Gleichbleibende gibt es, auch wenn es sich anders zeigt, als die absolute Wahrheit, der Philosophen seit Jahrhunderten die Eigenschaften ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. zuschreiben. ‚Gleichbleibendes‘ entsteht naemlich im Zuge alltaeglicher Ereignisse und nicht durch Hoehenfluege metaphysischer Spekulationen.

Alltaeglichen Erlebnissen mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Naturphaenomenen folgen Eindruecke des ‚Gleichbleibenden‘.  Meinem Nachbarn Borowski, meiner Nachbarin Niebuhr, dem Nachbarskind Tanja, dem Hausmeister, dem Postboten … etc. begegne ich immer wieder. Ich erkenne sie wieder, wenn ich auf sie treffe. So erhaelt der Sachverhalt, dass sie vorhanden sind, den Charakter von ‚gleich bleibend‘. Ebenso ist es mit weiter entfernt lebenden Personen, denen ich moeglicherweise seltener begegne. Dass ich sie seltener treffe, beeintraechtigt moeglicherweise. die Staerke meines Eindrucks, die Vorstellung, dass sie gleich bleibend vorhanden sind, verhindert dies aber nicht. Aehnlich verhaelt es sich mit Tieren, Pflanzen und Naturphaenomenen.

Das sich wiederholende Erlebnis, dass ich ihnen immer wieder begegne und sie wieder erkenne, wird zum Anlass, davon auszugehen, dass sie vorhanden sind und zwar auch dann, wenn ich sie gerade nicht sehe. Ich gehe davon aus, dass ich jederzeit auf sie treffen kann. Ich sage dann, Borowski wohnt in Haus Nr. 7, er sieht so und so aus, ist Junggeselle, arbeitet als Busfahrer … etc. Wie fluechtig derart ‚gleich bleibendes‘ ist, kennt jeder aus der Erfahrung, dass die betreffende Person wegzieht, heiratet, arbeitslos wird, auswandert, stirbt … etc. Naturphaenomene wie Fluesse, Meere, Berge, Taeler, Sterne hinterlassen einen staerkeren Eindruck von ‚gleich bleibend‘ bei mir, weil sie u. a. ueber lange Zeitraeume quasi ‚gleich bleibend‘ erlebt werden. So kann ich beispielsweise jahrelang meine Ferien in den Bergen verbringen im Hinblick auf die Vorstellung, bestimmte Berge ‚gleich bleibend‘ wieder zu sehen. An dieser Vorstellung aendert auch nichts der Sachverhalt,  dass auch Berge, Fluesse, Meere, Taeler, Sterne … etc. sich veraendern, Katastrophen z. B. veraendern das Bild von Landschaften. Erdgeschichtlich ist ferner bekannt, dass Erdteile, klimatische Verhaeltnisse und Populationen von Lebewesen verschwinden und durch neue ersetzt werden. Fatalerweise wird den vorgestellten Sachverhalten das Woertchen ‚immer‘ zugeordnet. Obwohl dieses Woertchen auf Nachfrage nur in einem zeitlich begrenzten Rahmen zutreffend ist, bringt die Art des Redens die Sachen doch dem Charakter des ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. naeher. Derartige sprachliche Gewohnheiten unterstuetzen die menschliche Neigung davon auszugehen, dass etwas ‚gleich bleibend‘ vorhanden sei.

David Hume vermutete, dass nach einer Reihe bestimmter, aehnlicher Erlebnisse quasi wie von selber eine Vorstellung von ‚gleich bleibenden‘ Zusammenhaengen entstehe. Er nannte als Quelle dieser menschlichen Eigenart aus aehnlichen Ereignissen auf ‚gleich bleibendes‘ zu schliessen ‚habit‘ bzw. ‚custom‘ je nach dem, ob es sich dabei um etwas individuell oder gemeinschaftlich Erworbenes handelt. [vgl. dazu Humes ‚Abhandlung ueber die menschliche Natur‘ und dort v. a. den 3. Teil des ersten Bandes.] Neurobiologen unserer Zeit verweisen darauf, dass eine Reihe bestimmter, aehnlicher Erlebnisse die Vorraussetzung dafuer ist, um Menschen dazu zu veranlassen zu sagen, dass bestimmte Zusammenhaenge regelhaft und so notwendig sind. Diese Regelhaftigkeiten sind verursacht durch Aehnlichkeiten von Ereignissen und Erlebnissen. „Das ist ganz praktisch, denn die Regeln von gestern gibt es morgen auch noch.“, aeusserte dazu Manfred Spitzer. Er weist so darauf hin, dass ‚gleich bleibendes‘ unserer Erfahrung dem Menschen orientieren ermoeglicht. (Vgl. Manfred Spitzer: Wie lernt das Gehirn? , S. 6. Vortrag. Hier verlinkt.)

Vermutlich also tragen unsere neurophysiologische Plastizitaet und kulturell erworbene Seh-Gewohnheiten dazu bei, dass Menschen Vorstellungen von ‚gleich bleibend‘ entwickeln. Die meisten Menschen sind zu sehr mit ihrer Lebensgestaltung beschaeftigt, als dass sie merkten, in welchem Ausmass sie einzelne, sich aehnlich wiederholende Erlebnisse in ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. ummuenzen und irgendwann ganz selbstverstaendlich behaupten, bestimmte Dinge seien ‚gleich bleibend‘. Es wird vergessen, dass dies nur begrenzt gueltig ist. Diese Neigung fuehrt dann – wenn es um religioese Wahrheiten geht – zu gefaehrlichen Einstellungen und Konsequenzen. In der abendlaendischen Philosophie entwickelte sich daraus der Mainstream ‚Metaphysik‘. Dieser war und ist mit Philosophen bevoelkert, die ‚gleich bleibendes‘ ins Auge fassten und ihr Philosophieren mit entsprechenden Spekulationen zu diesem Ziel hintreiben wollten. Dabei loesten sie ‚gleich bleibendes‘ aus dem Lebenszusammenhang heraus. Sie verabsolutierten eine Eigenschaft. Diese ‚Wahrheitsliebhaber‘ haben sich zwar in der Gegenwart mehrheitlich von der Metaphysik losgesagt. Sie verraten aber durch die verschiedensten Hinweise ihre implizite Neigung dafuer. Am deutlichsten zeigt sie sich, wenn Philosophen dafuer eintreten, dass sie ‚recht haben‘. Philosophische Gespraeche, die vom ‚argumentieren‘ (u. a. ‚beweisen‘) leben, sind dafuer charakteristisch.

Ich behaupte, dass Philosophen, die davon ausgehen, dass die Wahrheit keiner je kannte, noch kennt, noch je kennen wird, nicht recht haben moechten. Sie halten ‚recht haben‘ naemlich weder fuer moeglich, noch fuer nuetzlich. Diese Idee, dass ‚recht haben wollen‘ weder eine philosophische Tugend sei noch dem ‚philosophieren‘ nuetze, hoerte ich vor Jahren zum ersten Mal von dem Philosophen Rolf Reinhold. Er sagt ueber sich, dass ‚recht haben wollen‘ nicht seine Sache sei. In vielen Gespraechen mit ihm seit 2006 habe ich die positive Wirksamkeit seiner Maxime an mir selber erlebt. Reinholds ‚akzeptieren‘ statt ‚argumentieren‘ hat es mir ermoeglicht zu merken, dass mein ‚recht haben wollen‘ nicht nur meinem eigenen Philosophieren im Wege stand, sondern auch meinem Handeln.

Die Wahrheit kannte keiner, noch kennt sie jemand, …

… noch wird sie jemals jemand kennen. (Xenophanes aus Kolophon, ca. 570-480 v.u.Z.)   

Die Grenzen des Individuellen zu akzeptieren, scheint traditionell gepraegten Philosophen nicht zu gelingen. In irgendeiner Art und Weise befinden sie sich immer noch auf dem Weg, Objektives bzw. Wahres  zu entdecken. Dies gilt fuer renommierte Philosophen der Gegenwart genauso, wie fuer viele unbekannte Philosophierende, die sich von deren (Sehn-) Sucht haben anstecken lassen. Taetigkeiten wie ‚verifizieren‘ bzw. ‚falsifizieren‘, Auffassungen wie, es gaebe sowohl eine ‚oeffentliche‘ als auch eine ‚private Sprache‘ zeugen davon.

Ich gehe davon aus, dass dies die Folgen von Entscheidungen sind, die gefaellt wurden, nachdem die christliche Wahrheit vor Jahrhunderten gesellschaftlich verankert worden war. Buecherverbrennungen sowie die Schliessung antiker philosophischer Institutionen markieren diese historisch. Die christliche Wertschaetzung fuer Pythagoras, Platon, Plotin … etc. muendete in die Metaphysik als Charakteristikum der Philosophie. Augustin Thagastes Schrift ‚Ueber die wahre Religion‘ thematisiert diese Entscheidung und damit den hochspekulativen Charakter der abendlaendischen Philosophie. Er verfolgte mit anderen Zeitgenossen die platonisch-plotinische Idee, gemaess der es moeglich sei, Individuelles zu verlassen und jenseits individueller Grenzen Wahrheit zu finden.

Der zetetische oder skeptische, d.h. forschende Charakter vieler griechischer Philosophien der Antike wurde dagegen ignoriert, bzw. sogar so uminterpretiert, als sei Wahrheitssuche schon vor der christlichen Zeit von zentralem philosophischen Interesse gewesen. Aus meiner Sicht handelt es sich hier um einen folgenschweren Irrtum, der nur vor dem Hintergrund christlich-religioeser Beduerfnisse nachvollziehbar ist. Dieser Irrtum machte weitere Entscheidungen unumgaenglich, die schliesslich unter Philosophen u. a. zu einer unuebersichtlichen Begriffsvielfalt fuehrten, die man argumentativ zu beherrschen suchte. Auch heute noch sind Vertreter der Analytischen Philosophie damit beschaeftigt, verbindliche Kriterien fuer ueberzeugende Argumente zu finden. Es wird nicht bemerkt, dass die Praxis ‚recht haben zu wollen‘ eine Folge der oben erwaehnten Entscheidung fuer die Gleichsetzung von Metaphysik mit Philosophie ist.

Ich kann keinen konkreten Anhaltspunkt dafuer finden, dass ich denkend und handelnd meine individuelle Welt verlassen kann. Rolf Reinhold aeussert sich dazu sinngemaess so: „Ich bin meine Welt und sie veraendert sich mit jeder neuen Situation. Es ist mir nur moeglich, Dinge meiner Welt zu betrachten und ueber sie zu reden bzw. zu schreiben. Dinge, das ist das, was ich wahrnehme, besser gesagt ’sensoriere‘ . Ich sehe bzw. fuehle sie und ich gehe davon aus, dass u. a. Sensoren, Gehirn, Organe … etc. an ihrer Produktion – wie auch immer – mitwirken. Mehr als nur minimale Schlussfolgerungen ziehe ich nicht. Ich veraendere sie, wenn sie dysfunktional wirken. Ich moechte mit anderen zusammen handeln, ‚recht haben‘ interessiert mich nicht.“

 Dass auch ich mich derart konsequent beschraenkt sehe, unterscheidet mein ‚denken‘  bzw. ‚philosophieren‘ deutlich von dem anderer. Traditionell gewachsene Kategorien passen nicht mehr. Sie taugen nicht als Instrumente, um ‚physistisch philosophieren‘ so aufzufassen, dass damit ‚anders philosophiert‘ werden kann. . Vor allem akademisch gepraegte Philosophen werden dadurch irritiert. Sie gehen davon aus, dass ’nachdenken‘ bzw.  ‚philosophieren‘ sich  innerhalb von bestimmten historisch gewachsenen Begriffen ( im Geist, im Bewusstsein, subjektiv, objektiv … etc.) vollziehen muss. Ich kann ohne diese ‚Bezeichnungen‘ auskommen, weil ich nichts mehr kenne, was sie ‚bezeichnen‘ koennten. Ich habe ihnen jahrzehntelang nachgespuert und ich bin nicht fuendig geworden. Insofern sind sie fuer mich nur „Lautzeichenfolgen“ (Rolf Reinhold) bzw. „Lippengeraeusche“ (Axel Brauns). Traditionell gepraegte Philosophen glauben, damit auf etwas (Substanzielles, Vorhandenes, Seiendes) verweisen zu koennen. Die physistische Sicht, die Dinge zu sehen, ergibt  Kommunikationsstoerungen, die nur durch viele Erläuterungen zu beheben sind. Rolf Reinhold äußert sich auf seinen Seiten dazu in ähnlicher Weise. ‚Sowohl mein Beratungsangebot als auch mein ‚philosophieren‘ sind extrem erläuterungsbedürftig.‘

‚Ich moechte Autoritaeten und bereits beschrittene Wege verlassen. Ich moechte das, was sich fuer mich ergibt, zum Thema machen.‘ So äusserte sich auch schon David Hume.  Meine eigenen Wege sind fuer mich relevant und ich moechte mich mit anderen mit Blick auf die Sache darueber austauschen. Das wünschte sich auch schon George Berkeley. Wie Reinhold, Hume und Berkeley verspreche ich mir davon Anregungen fuer mein ‚philosophieren‘.

 

 

         

Ueber den Mythos des Geistigen



Meine Ablehnung von Erkenntnistheorien bezieht sich u.a. auf deren Setzungen wie z.B. ‚Geist‘, ‚Vernunft‘, ‚Verstand‘, ‚wahr‘, ‚falsch‘, Wissen, … etc., die aber in erkenntnistheoretischen Loesungen nicht als Setzungen ausgewiesen wurden, sondern im Gebrauch der Worte den Charakter des Faktischen annahmen und so gewohnheitsmaeßig die Selbstverstaendlichkeit des Geistigen und aller damit verbundenen geistigen Faehigkeiten kreiert haben dürften. Jeder der diese Ueberlegung nicht teilt, wird sie argumentativ mehr oder weniger geschickt und eventuell mit dem Hinweis auf wissenschaftliche Autoritaeten verwerfen.

Ohne auf denkbare Argumente einzugehen, ist weiter von Bedeutung, dass die im Diskurs zwischen verschiedenen Erkenntnistheorien zum Faktum erhobene Behauptung ‚der Geist ist etwas‘ verbunden wurde mit der abendlaendischen Behauptung, der menschliche Geist sei besser als der menschliche Koerper. Eine Behauptung die u.a. bei Augustin Thagaste zu finden ist, der seinem „Prinzip der Innerlichkeit“ folgend meinte: „Melius quod interius.“ (Bekenntnisse 10.6.9 )
Diese Idee, dass ‚innere‘, ‚geistige‘ Erkenntnis hoeherwertiger sei als Schlussfolgerungen aus ’sensorieren‘, zieht sich als unbemerkte Behauptung selbstverstaendlich durch jede Erkenntnistheorie. Sie foerdert die Auffassung, dass grundsaetzlich jede Theorie der Praxis überlegen sei. Es koennte sein, dass neuzeitliche Erkenntnistheoriker als Soehne und Toechter der ihnen auferlegten metaphysischen Schulung im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams und gegen die aufklaererische Forderung ’sapere aude‘ die Pflicht erfuellen, die von den Altvorderen aufgestellten Behauptungen nachzuweisen, um sie weiterhin zu benutzen und um darueber hinauszugehen: Erkenntnistheoretiker naemlich behaupten, dass geistige d.h. apriorische Erkenntnisse jeweils Grundlage unseres ‚handeln‘ seien. Eine Behauptung, die noch heute m. E. unnoetige Graeben zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Sichtweisen aufreißt. Die als Loesung angesehene Behauptung duerfte in Zeiten autoritaetsorientierten Philosophierens vermutlich als funktional betrachtet werden koennen, aber in Zeiten des Beduerfnisses nach zunehmender Eigenstaendigkeit und nach Authentizitaet als verzichtbare Beschraenkung erlebt werden.

Hume hatte dazu bemerkt, dass der Verzicht auf die unreflektierte Uebernahme von Behauptungen frueherer Autoritaeten, alle deren Behauptungen fragwuerdig, wenn nicht hinfaellig macht. Es bleibt ohne Autoritaet nur noch die jeweils eigene Sicht auf die Dinge. Statt von Behauptungen anderer auszugehen, kann ein Mensch sich dann bloß auf das beziehen, was ein Mensch jeweils kennen kann. Die Philosophiegeschichte dokumentiert, dass es in der Philosophie bisher selten vorgekommen ist, dass eigenstaendig philosophiert wurde, wie es die antiken Philosophen gefordert hatten. Im Gegenteil: Es hat sich im Bemuehen um Gewissheit im philosophischen Denken der westlichen Welt etwas verfestigt, das als Denkverbot funktioniert: „Du sollst den Geist, die Vernunft, … etc. nicht in Frage stellen!“ Macht jemand sich daran zu schaffen, steht er in Gefahr philosophisch ignoriert zu werden. Dekonstruktion ruft Empoerung hervor. Das duerfte sich nachteilig fuer eine philosophische Weiterentwicklung auswirken koennen.

Die hier skizzierten, vermuteten Zusammenhaenge verdienen aus meiner Sicht nicht den Namen ‚Dekonstruktion‘: dazu muessten sehr viel weiter fuehrende Ueberlegungen angestellt werden. Sie taugen m. E. aber dazu, um begruendete Fragen zu stellen und ein Gefuehl des Unbehagens hervorzurufen.

sensorieren und sinnliche Wahrnehmungen



Sinnliche Wahrnehmungen hatte ich in meinen metaphysischen Zeiten: Sie waren das, dem ich wohl oder uebel nicht entkommen konnte. Sie stoerten aber mein zielstrebiges Tun und Denken. Sie zeigten sich widerspenstig und fuegten sich mit den Jahren immer seltener, in das, was ich dachte und erreichen wollte. Oft erschlugen sie mich einfach und ich wollte nur noch Ruhe vor ihnen haben.

Inzwischen habe ich festgestellt, dass es fuer mich einen Unterschied macht, ob ich von sinnlichen Wahrnehmungen spreche oder von ’sensorieren‘. Mit sinnlichen Wahrnehmungen verbinde ich ‚Erkenntnistheorie‘ – mit ’sensorieren‘ die Vorstellung von meiner ‚Einheit Koerper‘ . Erkenntnistheorie dient der Rechtfertigung von Wissen ueber Handeln – ’sensorieren‘ meinem ‚handeln‘. ‚physistisch philosophieren‘ dient so mir und meiner Autonomie , die mir – obwohl in Aussicht gestellt – Erkenntnistheoretie, bzw. Metaphysik nie ermoeglichten. Das duerfte daran liegen, dass der Metaphysik jede konkrete Soliditaet fehlt: sie metaphorisiert Konkretes ins scheinbar eigentliche „Sein“ des ‚Geistes‘, das seit Jahrhunderten hoehlenplatonisch als die eigentliche Wirklichkeit erreichbar in Aussicht gestellt wird. Im Moment bin ich versucht meinen Emotionen zu folgen. Ich war sehr lange damit beschaeftigt herauszufinden, was andere meinen, wenn sie die Metaphysik empfehlen. Doch ich lasse meine Emotionen lieber beiseite. Was ich hier schreibe, duerfte schon irritierend genug sein.

Von der Metaphysik bzw. der Erkenntnistheorie versprach ich mir Impulse fuer mein ‚handeln‘. Die Impulse blieben aus,  aber es stellten sich Impulse ein, die anderen Einsichten zu folgen schienen. Metaphysiker haben – um auch solche Phaenomene erklaeren zu koennen – vor zwei Jahrhunderten eine eigene Wissenschaft ins Leben gerufen, die sie Psychologie nannten. In schlimmsten Zeiten beschrieb ich mich als fremd gesteuert. Diese Redeweise war eine Folge entsprechender psychologischer Theorien. In meinen besten Zeiten hatte ich Hoffnung, dass ich effizient wuerde handeln koennen, wenn ich es nur richtig machte. Das ‚richtig-machen-muessen‘ passte zu meiner Berufstaetigkeit: Lehrerinnen sind qua Berufsrolle darauf verpflichtet, alles, aber auch wirklich alles richtig zu machen. Referendare duerften dies noch kennen. Spaeter verdraengt man das, sonst bringt es einen um. Aber es hinterlaesst an der Oberflaeche eine Empfindsamkeit, die von anderen als Kritikunfaehigkeit bezeichnet wird und sich durch Abwehr kundtut,  die ’sensorieren‘ veraendert und beeintraechtigt.

Tatsaechlich wirksam zeigte sich aber das Lucy-Syndrom: Eine Erfindung von Charles Schulz fuer den Kreis seiner „Peanuts“ . Sie sagt anderen stets ganz unverbluemt, was sie zu tun haben und weist sie auf ihre Charakterfehler hin. Sie hat immer recht und sie ist der Typus des ‚ungeselligen Menschen‘, den Kant bei seiner Kritik der reinen Vernunft im Auge hatte: Denn sie geht davon aus, dass sie andere eigentlich nicht braucht. Wozu auch? Vernunft hat sie selber und die ausschlieszlich braucht sie nach Auskunft vieler, vieler Philosophengenerationen, um richtig zu ‚handeln‘. Insofern ist Lucy eine aufgeklaerte Frau, die daran arbeitet, alles und jeden in den Griff zu kriegen.

Ich finde, Lucy macht deutlich, wohin Aufklaerung durch Vernunft fuehrt.

Hinsehen ist nicht gleich ‚hinsehen‘



Wenn physistisch gepraegte Philosophen darauf hinweisen, dass ‚hinsehen‘ das A und O ihres ‚philosophieren‘ sei, dann wird ihnen von Metaphysikern (= Philosophen, die Bewusstsein fuer eine Wirklichkeit halten) entgegengehalten: „Das ist nichts Neues, das tun wir alle!“

Mir faellt dazu der blinde Fleck im Auge jedes Menschen ein, den meines Wissens bisher noch nie jemand gesehen hat, auszer er sieht so hin, wie Fachleute dies tun. Mir faellt weiter die altbekannte Frage ein: Wie kommt es, dass Du das Staubkorn im Auge eines anderen siehst, nicht aber den Splitter in Deinem eigenen?
Oder auch die volkstuemliche Feststellung, dass jemand ein Brett vor dem Kopf habe, weil er etwas nicht begreift. Aus physistisch gepraegter Sicht duerfte ’sensorieren‘ – das neurobiologische Funktionsprinzip fuer ‚hinsehen‘ – mit all diesen Phaenomenen zu tun haben.

Welche Rolle spielt ’sensorieren‘?

Ihre Auspraegung duerfte vermutlich von der genetischen Ausstattung und von der Funktionalitaet der Sensoren abhaengen. Ueber die genetische Ausstattung moechte ich mich an dieser Stelle nicht weiter auslassen, weil Menschen darauf zur Zeit noch keinen Einfluss haben. Doch Einfluss haben Menschen auf die Funktionalitaet der Sensoren. Diese scheint von ‚entscheiden‘ abhaengig zu sein. ‚entscheiden‘ haengt aus physistisch gepraegter Sicht mit dem zusammen, was Benjamin Libet und nach ihm Gerhard Roth und andere als „Bereitschaftspotential“ (vgl. Benjamin Libet: Mind Time. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2007, S. 160. Zusammenfassung) gemessen haben, kurz bevor der bewusste Impuls fuer eine bestimmte Handlung erfolgte. Der Auffassung Gerhard Roths, dies sei das Ende der menschlichen Freiheit, moechte ich mich nicht anschlieszen (vgl. Koerpervernunft)

Ich schlussfolgere aus den Libet-Experimenten und anderen Forschungsergebnissen zur Funktionsweise von Sensoren (Neuronen einschlieszlich) – wie sie u.a. das Frankfurter Max-Planck-Institut und das Ulmer Transferzentrum fuer Neurowissenschaften und Lernen  (ZNL) veroeffentlichen -, dass  „Bereitschaftspotential“ etwas sein duerfte, was ein Sensor bzw. ein Netzwerk von Sensoren erzeugt, nachdem etwas sensoriert wurde. Ohne dieses „Bereitschaftspotential“ scheint keine Wirkung feststellbar. Es gibt das Phaenomen ‚eingeschlafener Gliedmaszen‘, mit dem ein bestimmtes, unangenehmes Empfinden beschrieben wird und Sensorierbares nur sehr diffus bemerkt wird. Auch lokale Betaeubungen koennen Vergleichbares erleben lassen. Gelaehmte Koerperteile koennen nicht bewegt werden. Wachkomapatienten sind fast vollstaendig bewegungsunfaehig. Diese Phaenomene haben u.a. mit dem Verlust der Sensitivitaet von Sensoren zu tun, die eine Voraussetzung fuer die Moeglichkeit sein duerfte, „Bereitschaftspotential“ aufzubauen und periphere bzw. vegetative Wirkungen zu produzieren.

Ich denke, man kann verallgemeinernd sagen, dass Menschen ’sensorieren‘ fuer ihre koerperliche Gesundheit und ‚handeln‘ brauchen.

Derartige humanbiologische Bezuege werden vom Mainstream der Philosophie weder hergestellt noch im Hinblick auf ‚handeln‘ diskutiert. Mir kommt es oft so vor, als glaubte man, mit der Philosophie des Geistes (eine andere Bezeichnung fuer Metaphysik), bzw. der Theoretischen Philosophie autark zu sein und sich unbekuemmert auf traditionellen Schauplaetzen tummeln zu koennen. Behauptungen wie die Humanbiologie und die Metaphysik seien auf ganz unterschiedlichen Ebenen taetig, bzw. die Metaphysik befasse sich mit Gegenstaenden, die der Humanbiologie eben nicht zugaenglich seien, duerften vor allem dem Selbsterhalt dienen. Dabei wird m.E. ausgeklammert, dass seit Jahrhunderten eine einvernehmliche und nachvollziehbare Antwort auf Fragen nach den metaphysischen Gegenstaenden aussteht.

Wie kommt es, dass Metaphysiker an ihren Sichtweisen festhalten?

Metaphysik, bzw. deren Wissen, auch Erkenntnis genannt wird, bezeichnet eine traditionelle philosophische Weltsicht, die durch das begruendet wird, was wiederum andere rueckwaerts gerichtete Philosophen andachten und umdachten. Dies duerfte – weil Universitaeten in der Regel Philosophie im Kontext der Rueckwaertsgewandtheit lehren, anstatt Studenten zum ‚philosophieren‘ lernen anzuregen – zu einem beruflichen Profil und Blick fuehren, das ‚hinsehen‘ auf Gegenwaertiges zumindest beeintraechtigen duerfte. Rorty’s Ruf, Implikationen philosophischer Probleme zu erforschen, scheint ungehoert geblieben zu sein. Selbst wenn andere Woerter verwendet und der natuerliche Kosmos durch die Welt der Sprache ersetzt werden, bleibt der Anspruch bestehen, mit Abstraktionen erhellende Beitraege zu einem Diskurs der Wissenschaften und Menschen liefern zu koennen. Das Prinzip, nicht zu sehen, was fuer viele andere offensichtbar ist, scheint die Metaphysik zu regieren. David Hume hat ein anderes wichtiges Prinzip menschlicher Natur entdeckt, dass sich mir an dieser Stelle nahe legt: Die Gewohnheit fuehrt Menschen durch ihr Leben. Die jahrhundertealte Gewohnheit Philosophie als Metaphysik aufzufassen, duerfte den Mainstream der Philosophie mehr beeinflussen, als ihren Vertretern lieb und vor allem bekannt sein duerfte. Möglicherweise könnte sie diese Gewohnheit veranlasst haben,  zum Philosophen der „Gewohnheit“ auf Distanz zu gehen.

Selbst im Rahmen der Neurophilosophie – wie Thomas Metzinger und andere sie auffassen – wird ganz selbstverstaendlich davon ausgegangen, dass hinter bestimmten Phaenomenen Geist stehe. Das Phaenomen „Bewusstsein“ ist ’nicht biologisch evolviert‘ und wird daher metaphyischen Denkgewohnheiten folgend mit Substanz belegt, die mit „Wirklichkeit und Innerlichkeit“ charakterisiert wird. In ’nachgehegelter‘ Weise wird ueber die „Wirklichkeit Bewusstsein“ folgendes metaphysiziert, bzw. mythologisiert: „Der Vorgang des Lebens ist sich seiner selbst bewusst geworden.“ Thomas Metzinger &Thorsten Schmidt: Der Ego-Tunnel. Berliner Taschenbuchverlag 2010, S.31.

Diese implizite Voraussetzung muendet dann im Anschluss an Diskussionen humanbiologischer Experimente in die Feststellung, dass es „verblueffend“ sei zu sehen, „… wie klassische philosophische Gedanken einen Beitrag zu einem tieferen Verstaendnis dessen leisten, … wie man sich die Beziehung zwischen Geist und Gehirn denken kann.“ (ebd. S. 168)

physistisch gepraegtes ‚hinsehen‘ verzichtet auf traditionelle philosophische Sichten

Im Unterschied zu diesem Bemaechtigen des Koerperlichen durch das als ‚geistig‘ markierte Phaenomen „Bewusstsein“ – was m.E. der seit Descartes praktizierten UEberlegenheit der res cogitans (Denken) ueber die res extensa (Koerper), d.h. einer die ganze neuzeitliche Philosophie durchziehende dichotomischen Sichtweise entspricht, beschraenke ich mich auf Sensorierbares. Bezueglich der Phaenomene, die Metzinger erwaehnt, nehme ich keine „Wirklichkeit“ an, weil ich sie nicht beschreiben kann. Beschreibbar ist lediglich Konkretes. Dieser agnostische Aspekt von physistisch-philosophieren scheint mir den Reichtum von ‚hinsehen‘ erst zu ermoeglichen, waehrend die Behauptung einer dahinter liegenden Wirklichkeit zur alt bekannten philosphischen Besserwisserei fuehrt, die wie Kant und seine Nachfolger verdeutlichen koennen, dazu die passenden Systeme liefert.

Konkretes ‚handeln‘ duerfte seine Impulse aus der menschlichen Natur erfahren. Diese koennte gemeinsam auf Offensichtbares hin erforscht werden, wenn Philosophen sich von den Produkten der Altvorderen verabschiedeten und so die rosarote Brille abnaehmen, die ‚hinsehen‘ in den Fokus einer „geistigen Innerlichkeit“ ruecken, die die abendlaendische Philosophie sei Augustin Thagaste praegt.

‚philosophieren‘ heiszt, eigene Schlussfolgerungen aus ‚hinsehen‘ mit denen anderer allgemein nutzbar zu machen

Ein Philosoph, der ‚hinsehen‘ praktiziert haben duerfte und dafuer aus dem philosophischen Mainstream ausgeschlossen wurde, schrieb mit 23 Jahren: „Ich habe herausgefunden, dass die Philosophie ueber menschliches Handeln seit der Antike mit derselben Unzulaenglichkeit arbeitet wie die Naturwissenschaft. Beide gehen m.E. ausschlieszlich von Hypothesen, d.h. ueberwiegend von Erfindungen aus, anstatt sich auf Sensorierbares und Erforschbares zu beziehen. Jeder Philosoph bemuehte seine Fantasie und errichtet Chimaeren inner- und zwischenmenschlicher Idealitaeten und beglueckender Lebenskonzepte, ohne die menschliche Natur mit einzubeziehen, von der – aus meiner Sicht – jede philosophische Schlussfolgerung ueber gesellschaftsweit praktizierte Mitmenschlichkeit ausgehen muesste. Deshalb moechte ich vor allem Sensorierbares und Erforschbares studieren und dieses als Quelle von Kenntnissen fuer humane Wissenschaften verwenden. Ich halte es inzwischen fuer eine Tatsache, dass die meisten verstorbenen Philosophen Opfer ihrer eigenen spekulativen Faehigkeiten geworden sind. Auszerdem bin ich sicher, dass man nicht viel mehr tun muss, um zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen, als alle die alten Spekulationen zugunsten der eigenen Schlussfolgerungen oder der anderer wegzuwerfen. Davon duerfte es letztlich abhaengen, ob meine Ueberlegungen fuer zutreffend gehalten werden oder nicht.“ David Humes Brief an einen Arzt. Verfasst 1734, veroeffentlicht von John Hill Burton: Life and Correspondance of David Hume. Edinburgh 1846. Band I. S. 30 – 39.