Sehen heißt ‚wirklich unmittelbar zu sehen glauben‘,

so soll Friedlich Wilhelm Schlegel (1772-1829) sich in seinen ‚Vorlesungen zur Aesthetik‘ kritisch ueber den nicht nur zu seiner Zeit weit verbreiteten Irrtum zum ’sehen‘ geaeuszert haben. Schlegel hielt folgendes fuer zutreffend: „Das Auge sieht nicht Gegenstaende, es sieht Farben; und es sieht nicht raeumlich sondern flaechig. Nur der alltaegliche Umgang mit den Dingen und die Zusammenarbeit mit den anderen Sinnen machen es dem Menschen moeglich, die Welt als Welt zu erfassen. Einmal an diese begriffene Welt gewoehnt, vergisst er sein erstes Sehen: ‚Im gewoehnlichen Leben, wo wir Geschaefte an und mit den Gegenstaenden vorhaben, vergessen wir oft den Schein ganz und gar, und glauben die Gegenstaende so zu sehen, wie sie nach unsrer Bekanntschaft mit ihnen sind‘. „ (Roland Borgards: Die Wissenschaft vom Auge und die Kunst des Sehens. In: Thomas Lange u. Harald Neumeyer (Hrsg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Wuerzburg 2000, S. 52f.)

Ich bin immer wieder positiv ueberrascht, wenn ich bei metaphysisch denkenden Philosophen, skeptische Elemente entdecke. Vielen Lesern ist vermutlich die Zeichnung von Descartes (1596-1650) bekannt – falls nicht, hier klicken– in der er ’sehen‘ mit Hilfe einer geometrischen Darstellung schematisiert. Schlegel thematisiert ’sehen‘ hier aus skeptischer Sicht, die im Ergebnis an die Darstellung von  Ernst Mach (1838-1916) erinnert . Und es erinnert auch an David Hume (1711-1776), wenn Schlegel beschreibt, dass wir Menschen die Dinge so zu sehen glauben, wie wir sie kennen, also wie wir es gewohnt sind zu tun. Wir legen etwas in das, was wir sehen hinein, was wir nicht sehen. Diesen Vorgang hat David Hume mit dem Wort ‚understanding‘ bezeichnet, das im Deutschen gewohnheitsmaeszig  mit ‚Verstand‘ wiedergegeben wird.

Ist es also der ‚Verstand‘ der uns Irrtuemer unterschiebt, weil wir mit Hilfe seiner Begriffe Gewohntes hineininterpretieren, was gar nicht zu sehen ist? Kant haette dem heftig widersprechen muessen, wenn sein transzendentalphilosophischer Ansatz wenigstens ein bisschen von der Geltung beanspruchen soll, die er ihm zubilligte. Naemlich die Hoffnung auf ‚wissen‘. Wenn jemand blosz hofft zu wissen, dann weisz er aber nichts. Doch das waere fuer die Transzentalphilosophie wiederum zu wenig. Was also ist mit ihrer Hilfe zu gewinnen?

Ich denke eigentlich nichts. Sie ist eher der gelehrte Versuch, Nicht-Wissen zu thematisieren ähnlich wie es mittelalterliche Theologen wie Johannes Eruigena (ca. 810 – ca. 880) vor Jahrhunderten taten und damit der Behauptung widersprach, Menschen wüssten etwas über Gott,. Wenn selbst selbst professionelle Wahrheitsglaeubige wie Kant und Eriugena ‚wissen‘ verneinen, wieso machen Philosophen nicht mehrheitlich davon Gebrauch, ‚wissen‘ wollen als Tagtraeumerei aufzufassen und sich mit leichtem Herzen, dem Reichtum der Skepsis hinzugeben, fuer den sie schon von Augustin Thagaste (354-430) gewuerdigt worden war?

Ich fuerchte, es koennte eine (Ver)Teufelei von Seiten kirchlicher Autoritaeten dahinter stecken, die den Philosophen als ‚heiliger Schrecken‘ trotz Aufklaerung immer noch in den Knochen steckt.

Ueber den Mythos des Geistigen



Meine Ablehnung von Erkenntnistheorien bezieht sich u.a. auf deren Setzungen wie z.B. ‚Geist‘, ‚Vernunft‘, ‚Verstand‘, ‚wahr‘, ‚falsch‘, Wissen, … etc., die aber in erkenntnistheoretischen Loesungen nicht als Setzungen ausgewiesen wurden, sondern im Gebrauch der Worte den Charakter des Faktischen annahmen und so gewohnheitsmaeßig die Selbstverstaendlichkeit des Geistigen und aller damit verbundenen geistigen Faehigkeiten kreiert haben dürften. Jeder der diese Ueberlegung nicht teilt, wird sie argumentativ mehr oder weniger geschickt und eventuell mit dem Hinweis auf wissenschaftliche Autoritaeten verwerfen.

Ohne auf denkbare Argumente einzugehen, ist weiter von Bedeutung, dass die im Diskurs zwischen verschiedenen Erkenntnistheorien zum Faktum erhobene Behauptung ‚der Geist ist etwas‘ verbunden wurde mit der abendlaendischen Behauptung, der menschliche Geist sei besser als der menschliche Koerper. Eine Behauptung die u.a. bei Augustin Thagaste zu finden ist, der seinem „Prinzip der Innerlichkeit“ folgend meinte: „Melius quod interius.“ (Bekenntnisse 10.6.9 )
Diese Idee, dass ‚innere‘, ‚geistige‘ Erkenntnis hoeherwertiger sei als Schlussfolgerungen aus ’sensorieren‘, zieht sich als unbemerkte Behauptung selbstverstaendlich durch jede Erkenntnistheorie. Sie foerdert die Auffassung, dass grundsaetzlich jede Theorie der Praxis überlegen sei. Es koennte sein, dass neuzeitliche Erkenntnistheoriker als Soehne und Toechter der ihnen auferlegten metaphysischen Schulung im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams und gegen die aufklaererische Forderung ’sapere aude‘ die Pflicht erfuellen, die von den Altvorderen aufgestellten Behauptungen nachzuweisen, um sie weiterhin zu benutzen und um darueber hinauszugehen: Erkenntnistheoretiker naemlich behaupten, dass geistige d.h. apriorische Erkenntnisse jeweils Grundlage unseres ‚handeln‘ seien. Eine Behauptung, die noch heute m. E. unnoetige Graeben zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Sichtweisen aufreißt. Die als Loesung angesehene Behauptung duerfte in Zeiten autoritaetsorientierten Philosophierens vermutlich als funktional betrachtet werden koennen, aber in Zeiten des Beduerfnisses nach zunehmender Eigenstaendigkeit und nach Authentizitaet als verzichtbare Beschraenkung erlebt werden.

Hume hatte dazu bemerkt, dass der Verzicht auf die unreflektierte Uebernahme von Behauptungen frueherer Autoritaeten, alle deren Behauptungen fragwuerdig, wenn nicht hinfaellig macht. Es bleibt ohne Autoritaet nur noch die jeweils eigene Sicht auf die Dinge. Statt von Behauptungen anderer auszugehen, kann ein Mensch sich dann bloß auf das beziehen, was ein Mensch jeweils kennen kann. Die Philosophiegeschichte dokumentiert, dass es in der Philosophie bisher selten vorgekommen ist, dass eigenstaendig philosophiert wurde, wie es die antiken Philosophen gefordert hatten. Im Gegenteil: Es hat sich im Bemuehen um Gewissheit im philosophischen Denken der westlichen Welt etwas verfestigt, das als Denkverbot funktioniert: „Du sollst den Geist, die Vernunft, … etc. nicht in Frage stellen!“ Macht jemand sich daran zu schaffen, steht er in Gefahr philosophisch ignoriert zu werden. Dekonstruktion ruft Empoerung hervor. Das duerfte sich nachteilig fuer eine philosophische Weiterentwicklung auswirken koennen.

Die hier skizzierten, vermuteten Zusammenhaenge verdienen aus meiner Sicht nicht den Namen ‚Dekonstruktion‘: dazu muessten sehr viel weiter fuehrende Ueberlegungen angestellt werden. Sie taugen m. E. aber dazu, um begruendete Fragen zu stellen und ein Gefuehl des Unbehagens hervorzurufen.