Wahles Kritik der Erkenntnis

Seit Locke hat sich ‚Erkenntnistheorie‘ als Disziplin der traditionellen Philosophie etabliert. Dabei geht es um die Frage, was können wir ‚wissen‘ und wie kommen Menschen zu verlässlichen Erkenntnissen. Kant war einer der letzten, der mit einem ausgeklügelten System die Frage im Sinne von ‚Erkenntnis ist möglich‘ beantwortete. Er gab mit seiner ‚Kritik der reinen Vernunft‘, indem er bekannte Begriffe zerlegte und z. T. verändert anwendete, seinen Lesern viele Probleme auf. Zeitgenossen hielten seine Transzendentalphilosophie für eine gelungene Variante der Lösung des Erkenntnisproblems, die wissenschaftlichen Standard im Kreis anderer Wissenschaften beanspruchen konnte. Es gab aber auch eine Reihe von Widersprüchen, die im wesentlichen bemängelten, dass er das unausgesprochen voraussetzte, was er behauptete bewiesen zu haben. In dieser Hinsicht hatte Kant so etwas wie einen „blinden Fleck“. Und viele, die ihm folgten, schienen unter einer vergleichbaren Blindheit zu leiden. 

Als Wahle Ende des 19. Jahrhunderts zu philosophieren begann, war Kant im deutschsprachigen Raum ein anerkannter und viel interpretierter Philosoph. Wahle  behauptete nun, dass die Sehnsucht nach Wissen unerfüllbar sei. Vor allem neurobiologische Ergebnisse aus der Hirn- und Nervenforschung seiner Zeit sprachen aus seiner Sicht dagegen. 

Er distanzierte sich im Hinblick auf ‚Wissen‘ von vertrauten philosophischen Selbstverständlichkeiten. U. a. von Begriffen wie Materie, Subjekt, Geist, Ich, Bewusstsein, von der Behauptung es gäbe ein ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Aus seiner Sicht führte dies zu Irrtümern, die die tatsächlichen Sachverhalte verbergen. Der grundlegende, tatsächliche Sachverhalt von dem er ausging, waren die ‚Vorkommnisse unter dem Bestand der Sinne‘. Aus den ‚Vorkommnissen‘ können wir schlussfolgern, dass wir etwas vor uns haben, was als Objekt bezeichnet, jedoch nicht bestimmt werden kann. Erinnerungen von und Phantasien aus ‚Vorkommnissen‘ ergeben keine Kenntnisse, die man als Wissen bezeichnen dürfe.

Statt über ‚Geist‘ sprach er von Psychischem. Psychisches sei wie etwas „Gewordenes, Ernährtes und Wurzelndes“. Eine Art Produkt, das erforschbar ist. ‚Geworden‘ heißt: Das Nervensystem ermöglicht uns von Geburt an zu empfinden, d. h. Vorkommnisse zu erleben. Die frühen Vorkommnisse sind Basis unserer Vorstellungen und bahnen unserer ‚geistigen Entwicklung‘. ‚Ernährtes‘ heißt, unser Nervensystem produziert lebenslang Vorkommnisse, mit denen wir unser Leben gestalten. ‚Wurzelndes‘ : Psychisches ist stets mit dem Nervensystem verbunden. D. h. der Mechanismus unseres Denkens bzw. geistigen Lebens ist physiologisch bedingt. Mechanismus meint die chemischen und physikalischen Prozesse unseres Nervensystems.

Dass ohne unser Nervensystem die Welt so ist, wie wir sie mit ihm wahrnehmen, ist eine unbegründete Annahme. Unsere Wünsche nach Wissen sind also vergeblich, weil wir niemals davon ausgehen können ohne unser Nervensystem zu leben. Dies gilt auch für die Verwendung von physikalischen und chemischen Hilfsmitteln: Wir haben stets ‚Vorkommnisse unter dem Bestand der Sinne‘. (Vgl. zum gesamten Abschnitt: Wahle: Über den Mechanismus des geistigen Lebens, S. 34-50)

 

 

Sehen heißt ‚wirklich unmittelbar zu sehen glauben‘,

so soll Friedlich Wilhelm Schlegel (1772-1829) sich in seinen ‚Vorlesungen zur Aesthetik‘ kritisch ueber den nicht nur zu seiner Zeit weit verbreiteten Irrtum zum ’sehen‘ geaeuszert haben. Schlegel hielt folgendes fuer zutreffend: „Das Auge sieht nicht Gegenstaende, es sieht Farben; und es sieht nicht raeumlich sondern flaechig. Nur der alltaegliche Umgang mit den Dingen und die Zusammenarbeit mit den anderen Sinnen machen es dem Menschen moeglich, die Welt als Welt zu erfassen. Einmal an diese begriffene Welt gewoehnt, vergisst er sein erstes Sehen: ‚Im gewoehnlichen Leben, wo wir Geschaefte an und mit den Gegenstaenden vorhaben, vergessen wir oft den Schein ganz und gar, und glauben die Gegenstaende so zu sehen, wie sie nach unsrer Bekanntschaft mit ihnen sind‘. „ (Roland Borgards: Die Wissenschaft vom Auge und die Kunst des Sehens. In: Thomas Lange u. Harald Neumeyer (Hrsg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Wuerzburg 2000, S. 52f.)

Ich bin immer wieder positiv ueberrascht, wenn ich bei metaphysisch denkenden Philosophen, skeptische Elemente entdecke. Vielen Lesern ist vermutlich die Zeichnung von Descartes (1596-1650) bekannt – falls nicht, hier klicken– in der er ’sehen‘ mit Hilfe einer geometrischen Darstellung schematisiert. Schlegel thematisiert ’sehen‘ hier aus skeptischer Sicht, die im Ergebnis an die Darstellung von  Ernst Mach (1838-1916) erinnert . Und es erinnert auch an David Hume (1711-1776), wenn Schlegel beschreibt, dass wir Menschen die Dinge so zu sehen glauben, wie wir sie kennen, also wie wir es gewohnt sind zu tun. Wir legen etwas in das, was wir sehen hinein, was wir nicht sehen. Diesen Vorgang hat David Hume mit dem Wort ‚understanding‘ bezeichnet, das im Deutschen gewohnheitsmaeszig  mit ‚Verstand‘ wiedergegeben wird.

Ist es also der ‚Verstand‘ der uns Irrtuemer unterschiebt, weil wir mit Hilfe seiner Begriffe Gewohntes hineininterpretieren, was gar nicht zu sehen ist? Kant haette dem heftig widersprechen muessen, wenn sein transzendentalphilosophischer Ansatz wenigstens ein bisschen von der Geltung beanspruchen soll, die er ihm zubilligte. Naemlich die Hoffnung auf ‚wissen‘. Wenn jemand blosz hofft zu wissen, dann weisz er aber nichts. Doch das waere fuer die Transzentalphilosophie wiederum zu wenig. Was also ist mit ihrer Hilfe zu gewinnen?

Ich denke eigentlich nichts. Sie ist eher der gelehrte Versuch, Nicht-Wissen zu thematisieren ähnlich wie es mittelalterliche Theologen wie Johannes Eruigena (ca. 810 – ca. 880) vor Jahrhunderten taten und damit der Behauptung widersprach, Menschen wüssten etwas über Gott,. Wenn selbst selbst professionelle Wahrheitsglaeubige wie Kant und Eriugena ‚wissen‘ verneinen, wieso machen Philosophen nicht mehrheitlich davon Gebrauch, ‚wissen‘ wollen als Tagtraeumerei aufzufassen und sich mit leichtem Herzen, dem Reichtum der Skepsis hinzugeben, fuer den sie schon von Augustin Thagaste (354-430) gewuerdigt worden war?

Ich fuerchte, es koennte eine (Ver)Teufelei von Seiten kirchlicher Autoritaeten dahinter stecken, die den Philosophen als ‚heiliger Schrecken‘ trotz Aufklaerung immer noch in den Knochen steckt.

Mein Interesse fuer Bataille …

… ergab sich, als ich an einem philosophischen Artikel fuer Wikipedia arbeitete. Der Bataille-Artikel, auf den ich dabei stiesz, war ziemlich unvollstaendig und die philosophischen Teile fuer einen Leser ohne Kenntnisse von Batailles Schriften wenig nachvollziehbar.

Waehrend der Lektuere von Michel Suryas Bataille-Biographie entstand mein erster Eindruck – der sich durch weitere Lektueren bestaetigte -, dass Batailles ’schreiben‘ und ‚denken‘ in sehr ausgepraegter Weise mit dem ersten Fünftel seines Lebens zusammenhing.  Es gibt Philosophen, bei denen sich kaum Spuren derartiger Zusammenhaenge finden.  Bataille thematisierte diesen Zusammenhang. Seine Schriften sind zwar nicht direkt autobiographisch, aber sie nähren sich von seinem Leben, meinte Ian Pindar, Rezensent beim Guardian.

Mein erstes Resuemee war: Es gibt Menschen die erleiden ein Schicksal, das sie dem Chaos aussetzt. Sie arrangieren sich mit diesem Chaos und orientieren sich, indem sie sich z. B. ihr eigenes Utopia erfinden. Georges Bataille scheint zu diesen gehoert zu haben. Er erfand ein unverwechselbares ‚philosophieren‘ innerhalb von Dichtung und Wissenschaft. Die surrealistische Bewegung bot ihm vermutlich einen gesellschaftlich minimal akzeptierten Rahmen, dieses ‚philosophieren‘ in einem Kreis von anderen ‚Utopianern‘ zu tun – ‚Utopisten‘ passt nicht, das Wort hat die Mitbedeutung von Menschen, die eigentlich ueberfluessig sind. Bataille soll sich – nach Auskunft der zwei Biographen Michel Surya und Stuart Kendall – eine Zeitlang in der experimentierfreudigen Gruppe um Alfred Metraux, André Masson, Joan Miró und Michel Leiris sehr wohl gefuehlt haben.

Das Chaos seiner Erlebnisse ergab bestimmte Erfahrungen – Rolf Reinhold bezeichnet – fuer mich sehr brauchbar – ‚Erfahrungen‘, als Schlussfolgerungen aus dem, was ein Mensch erlebt hat. Diese Erfahrungen lieszen Ideen fuer die folgenden, zwei groszen Vorhaben entstehen,

  • 1. … in allem das Gegenteil zu tun und zu denken, was sein Vater getan und gedacht hatte.
    2. … die Gesamtheit aller Arten menschlichen Verhaltens zusammen mit natuerlichen Ablaeufen komplett und umfassend darzustellen.

Keines dieser beiden Vorhaben setzte er vollstaendig um. Mehrere Jahre lang beschaeftigte er sich intensiv mit dem christlichen Glauben. Er wartete auf einen göttlichen Ruf, um Mönch oder Priester zu werden. Er wartete vergeblich. Er fand im christlichen Glauben überhaupt keine Orientierung fuer sein Handeln. Wie seinem Vater blieb Bataille der Zugang zum christlichen Glauben verschlossen. Beim Studieren der Religionsgeschichte fand er dennoch Anregungen fuer sein ‚denken‘.

Die Gesamtheit menschlichen und natuerlichen Lebens, die „Totalitaet des Seins“ entglitt ihm beim ’schreiben‘, was ihm vorgeworfen wurde. Genauso unpassend wäre es, ihm vorzuwerfen, dass er bis ans Lebensende in panischen Schrecken geriet, wenn er sich an seine Kindheit erinnerte.  Die Vielzahl aller Aspekte des Lebens mit einem Blick zu erfassen, halte ich fuer ein XXXL, typisch jugendliches Vorhaben. Hier verschaetzte er seine Faehigkeiten und Kapazitaeten. Ich gehe sogar davon aus, dass Menschen prinzipiell nicht in der Lage sind, eine derartige umfassende XXXL- Sicht – einschlieszlich aller Details – zu bilden. Das macht mich so skeptisch gegen Theorien, mit denen Menschen die Welt verbessern moechten. Bataille machte aus seinen Problemen mit einer umfassenden Theorie eine Tugend und aeuszerte, dass er so seine Souveraenitaet bewahre. Ausrede? Möglich. Für mich handelt es sich eher um die begrenzten Moeglichkeiten sprachlicher Kommunikation, die Bataille als ’schwache Kommunikation‘ bezeichnete.

Alles, was moeglich ist, in die Gesamtheit, in die „Totalitaet seines Seins“ zu integrieren, scheint mir ein charakteristisches Merkmal von Batailles ‚denken‘ zu sein. Ich sehe seine ’neuen Mythen‘, die er erfand, damit im Zusammenhang stehend. Mythen haben den Vorteil, dass sie „alles Moegliche“ verborgen hinter Metaphern mitmeinen und so eine maximale Zahl an Interpretationen zulassen. Als Beispiel ein Satz aus Der Schlieszmuskel der Sonne (L’anus solaire, 1927): „Der grosze Koitus mit der himmlischen Atmosphaere wird durch die Laufbahn der Erde um die Sonne bestimmt.“ Diese Dichtungen mit der Natur wirken auf mich reizvoll. Sie reduzieren außerdem komplexe Zusammenhänge auf ein überschaubares Bild. Und diese Bilder sind Geschichten, die Menschen sich erzählen. Mythen sind Geschichten, die durch Hörensagen umherlaufen. Bataille wollte das gemeinsame Wirken rationaler und irrationaler Elemente in der Welt darstellen. Dazu passend sollte eine neue „mythologische Anthropologie“ nach Art des oben zitierten Satzes entstehen, in der er irrationale Hypothesen darstellen wollte. Auch diese Idee umzusetzen, ist ihm nur in Ansaetzen (Der verfemte Teil,1949.) gelungen. Doch ich finde es anregend und menschlich, wenn Menschen Unvollstaendiges schreiben. Dies kommt meinem philosophisch begruendeten Vorurteil zugute, dass Menschen nie damit fertig werden, die Dinge so zu sehen, wie sie ihnen erscheinen. Da die Menschen und die Dinge sich staendig aendern, aendern sich menschliche Sichten. Um dagegen fertige Sichten zu produzieren, etwas abschließend zu behandeln, müssen Menschen dogmatisch denken, was Bataille nicht getan hat.

„Schreiben heißt, das Glueck suchen. Das Glueck belebt die kleinsten Teile des Universums: das Funkeln der Sterne ist seine Kraft, eine Feldblume sein Zauberspruch. … Der Zipfel des Gluecks ist von der Traurigkeit der Geschichte des Auges (1928) verschleiert. Ohne diese Geschichte waere er unerreichbar.“ (Das obszoene Werk, S. 190.)

Bataille: Entstellungen des Schreckens

„Meine Kindheitserinnerungen werden nur noch ‚entstellt‘ lebendig und darstellbar. Sie erhalten auf diese Weise einen ‚obszoenen Sinn‘.“, schrieb Bataille in Das obszoene Werk (S. 52).

Nur selten – in kleinen Gedichten am Rande und Reminiszenzen zu seinen obszoenen Texten – gelang es Bataille Entstellendes zu kommentieren und darueber zu reflektieren, wie seine literarischen Aeuszerungen zu seinem (Er)Leben passen. Man kann den Menschen nicht raten, Vorurteile aufzugeben, ueberlegte er. Denn diese Vorurteile sind Ergebnisse einer kulturellen Leistung, die sensible und intelligente Menschen geschaffen haben. Und nun verlange man von ihnen einzugestehen, dies sei eine Dummheit gewesen? Das funktioniere nicht. Sensibilitaet und Intelligenz setzten Schrecken und Anziehung der Erotik erst in Gang. Er wolle den Leser in seinen obszoenen Schriften entdecken lassen, ‚wie die Erotik die bewusste Einstellung aufzureiszen vermag‘ (S. 58f). Er ertrug sein Denken ueber Tod und Exzess und Sexualitaet kaum. Immer wieder wurde mir das Lesen unertraeglich. Er vernichte sich beim Schreiben selber. Im Exzess, in der Zusammenschau aller Aspekte von Tod und Sexualitaet fand er nichts wieder, auch Gott nicht (60).

„Ich bin keineswegs geneigt, die Wollust fuer das Wesentlichste auf der Welt zu halten. Der Mensch ist nicht auf das Organ der Lust beschraenkt. Aber dieses Organ lehrt den Menschen (s)ein Geheimnis, das man nicht eingestehen kann. | Es gibt keinen Grund, der sexuellen Liebe eine Bedeutung zuzuschreiben, die nur das gesamte Leben besitzt …“ (S. 60f) Es war mir moeglich, ueber diese Totalitaet zu sprechen. Doch das, was ich sagen wollte, entglitt mir, wenn ich die Grenzen ueberschritt, innerhalb derer ich in geordneten Saetzen schrieb. Auf diese Weise erhielt ich mir meine Souveraenitaet (62).

„Gott ist das Grauen in mir ueber das, was war,
ueber das, was ist, und ueber das, was sein wird,
so GRAUENHAFT war, ist und sein wird,
dass ich es um jeden Preis leugnen
und mit aller Kraft schreien sollte,
ich leugne, dass es so war, dass es so ist
und dass es so sein wird,
aber ich werde luegen.“
(90)

Bataille wurde lebenslang von Erinnerungen an den erschreckenden, koerperlichen Zustand seines Vaters und dessen Leiden gequaelt. Sein Leben begann mit dem Tod, schrieb sein Biograph Michel Surya. Hinzu kamen Erinnerungen an Kindheitserlebnisse in Verbindung mit heterogenen, d. h. gesellschaftlich verachteten Auffassungen von Sexualitaet, die er in Das obszoene Werk thematisiert, ohne zu sagen, so war es. ‚Ich bin ein Kind des Schreckens.‘ (81) kommentierte er seine Erinnerungen und ‚ich hatte vor allem Sexuellen Angst‘.(7)

Georges Bataille und Marion Luckow: Das obszoene Werk. Reinbek b. Hamburg 2012, 22. Auflage. (Die Ziffern im Text beziehen sich auf Seiten dieser Ausgabe.)

Batailles heterogenes ‚philosophieren‘

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Philosophie zu einer ganz bestimmten Philosophie verfestigt. Ihre Vertreter sehen sich als Hueter eines Denkens, das sie als abendlaendisch charakterisieren. In der Gegenwart kann man lesen, dass es in der Philosophie vor allem um Begriffe (Wolfgang  Roed) geht oder um den Geist (Ansgar Beckermann) oder um die Sprache (Analytische Philosophie) geht. Alle diese Philosophen philosophieren rueckwaertsgewandt: Sie gehen davon aus, in einer Tradition zu stehen, die ihnen die Mittel fuer ein ‚richtiges‘ Philosophieren zur Verfuegung stellt und die es ihnen ermoeglicht, philosophische Texte angemessen zu interpretieren. Bei meinen philosophischen Forschungen vor allem ueber Hume, Berkeley und Bacon, aber auch Mach, Wahle und Mautner ist mir immer wieder aufgefallen, dass Philosophen so etwas wie eine im Studium erworbene Lesebrille aufhaben und nur noch das in Texten finden, was diese Brille ihnen sichtbar macht. So z. B. bei Hume, dem eine neue Kausalitaetstheorie zugeschrieben wird, waehrend er davon ausgeht, dass die angeblich beobachtbare Kausalitaet eine Folge menschlichen Verhaltens ist, die er als Gewohnheit bezeichnet. Es freut mich, wenn z. B. Poststrukturalisten mit Neuem experimentieren.

„Wie kann sich einer ausdruecken, der die Philosophen zum Schweigen bringt, wenn nicht auf eine Art, die sie nicht begreifen?“ (Bataille: Anmerkungen zum Vorwort zu Madame Edwarda (1941). In: Das obszoene Werk. Hamburg 1972. S. 62.) Dies ist das Dilemma eines Philosophen, der auszerhalb der universitaeren Philosophie philosophiert. Hume’s Rezeption hat sein praktizierter konformer Sprachgebrauch nichts genuetzt. Haeufig wurde und wird sogar beklagt, dass er viele Worte um ’nichts‘ mache, waehrend er erlaeuterte, was er sich bei seinen Worten dachte. Die Frage, ob viele Philosophen ueberhaupt begriffen haben, was Hume thematisiert, wird nicht gestellt. Dies frage ich mich bei Batailles Rezeption auch des öfteren.

Bataille stellte aehnliches fest und „… wirft der traditionellen Philosophie vor, dass sie … Grenzerfahrungen, wie sie etwa in der Erotik oder in Rausch- und Traumzustaenden gemacht werden, ausschlieszt. Er bezweifelt die Berechtigung solch eines Philosophierens, ‚das den intensivsten Gemuetsbewegungen fremd gegenuebersteht‘. Bataille sieht im herkoemmlichen philosophischen Diskurs den Ausdruck der ‚profanen, homogenen Welt‘, … .“  Nikolaus Halmer

Die homogene Philosophie, wie die homogene Kultur überhaupt, weigert sich, das mit einzubeziehen, was ihr fremd, d.h. heteronom zu sein scheint. Bataille entwarf eine Allgemeine Theorie der Oekonomie, das Zusammenspiel von Homogenem und Heteronomem wirksam im Interesse aller Menschen, die Gegenstand des philosophischen Gedankenaustausches sein könnte .  Die gegenseitige “ … Befriedigung von Beduerfnissen … spielt eine bedeutende Rolle im Leben. … [es] liegt etwas Unheimliches in der Verachtung, die die deutsche Ethik zugunsten eines ‚unbefleckten Idealismus‘ ueber dieses pragmatische Denken ausschuettet. Der kategorische Imperativ Kants rufe bei ihm – so Dewey bereits 1914 – das Bild eines Kasernenhof-Korporals wach. (Dewey: Deutsche Philosophie und deutsche Politik. Wien/Berlin 2000, S.112f.)

Bataille machte sich zum Fuersprecher menschlicher Beduerfnisse, ungeachtet der Tatsache, ob sie akzeptiert oder verfemt wurden. Er war in einer Welt aufgewachsen, in der das Verfemte und seine Folgen wie die Syphilis seines Vaters, sowie der Tod, sein Erschrecken und Gewalt zum Alltag gehoerten. Dies schloss die Batailles von der homogenen Kultur aus. Es nuetzte ihnen nichts, sich um Akzeptanz zu bemuehen. Erst die surrealistische Bewegung hat es dem juengsten Bataille ermoeglicht, mit Einschraenkungen „dazu zu gehoeren“.

Wenn die Wahrheit unerfahrbar ist …

… dann macht es eigentlich keinen Sinn, recht zu haben oder ueberzeugen zu wollen. Aber muss es nicht so etwas wie Wahrheit, etwas Gleichbleibendes geben, etwas von dem aus Menschen verlaesslich handeln koennen? Dieses Gleichbleibende gibt es, auch wenn es sich anders zeigt, als die absolute Wahrheit, der Philosophen seit Jahrhunderten die Eigenschaften ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. zuschreiben. ‚Gleichbleibendes‘ entsteht naemlich im Zuge alltaeglicher Ereignisse und nicht durch Hoehenfluege metaphysischer Spekulationen.

Alltaeglichen Erlebnissen mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Naturphaenomenen folgen Eindruecke des ‚Gleichbleibenden‘.  Meinem Nachbarn Borowski, meiner Nachbarin Niebuhr, dem Nachbarskind Tanja, dem Hausmeister, dem Postboten … etc. begegne ich immer wieder. Ich erkenne sie wieder, wenn ich auf sie treffe. So erhaelt der Sachverhalt, dass sie vorhanden sind, den Charakter von ‚gleich bleibend‘. Ebenso ist es mit weiter entfernt lebenden Personen, denen ich moeglicherweise seltener begegne. Dass ich sie seltener treffe, beeintraechtigt moeglicherweise. die Staerke meines Eindrucks, die Vorstellung, dass sie gleich bleibend vorhanden sind, verhindert dies aber nicht. Aehnlich verhaelt es sich mit Tieren, Pflanzen und Naturphaenomenen.

Das sich wiederholende Erlebnis, dass ich ihnen immer wieder begegne und sie wieder erkenne, wird zum Anlass, davon auszugehen, dass sie vorhanden sind und zwar auch dann, wenn ich sie gerade nicht sehe. Ich gehe davon aus, dass ich jederzeit auf sie treffen kann. Ich sage dann, Borowski wohnt in Haus Nr. 7, er sieht so und so aus, ist Junggeselle, arbeitet als Busfahrer … etc. Wie fluechtig derart ‚gleich bleibendes‘ ist, kennt jeder aus der Erfahrung, dass die betreffende Person wegzieht, heiratet, arbeitslos wird, auswandert, stirbt … etc. Naturphaenomene wie Fluesse, Meere, Berge, Taeler, Sterne hinterlassen einen staerkeren Eindruck von ‚gleich bleibend‘ bei mir, weil sie u. a. ueber lange Zeitraeume quasi ‚gleich bleibend‘ erlebt werden. So kann ich beispielsweise jahrelang meine Ferien in den Bergen verbringen im Hinblick auf die Vorstellung, bestimmte Berge ‚gleich bleibend‘ wieder zu sehen. An dieser Vorstellung aendert auch nichts der Sachverhalt,  dass auch Berge, Fluesse, Meere, Taeler, Sterne … etc. sich veraendern, Katastrophen z. B. veraendern das Bild von Landschaften. Erdgeschichtlich ist ferner bekannt, dass Erdteile, klimatische Verhaeltnisse und Populationen von Lebewesen verschwinden und durch neue ersetzt werden. Fatalerweise wird den vorgestellten Sachverhalten das Woertchen ‚immer‘ zugeordnet. Obwohl dieses Woertchen auf Nachfrage nur in einem zeitlich begrenzten Rahmen zutreffend ist, bringt die Art des Redens die Sachen doch dem Charakter des ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. naeher. Derartige sprachliche Gewohnheiten unterstuetzen die menschliche Neigung davon auszugehen, dass etwas ‚gleich bleibend‘ vorhanden sei.

David Hume vermutete, dass nach einer Reihe bestimmter, aehnlicher Erlebnisse quasi wie von selber eine Vorstellung von ‚gleich bleibenden‘ Zusammenhaengen entstehe. Er nannte als Quelle dieser menschlichen Eigenart aus aehnlichen Ereignissen auf ‚gleich bleibendes‘ zu schliessen ‚habit‘ bzw. ‚custom‘ je nach dem, ob es sich dabei um etwas individuell oder gemeinschaftlich Erworbenes handelt. [vgl. dazu Humes ‚Abhandlung ueber die menschliche Natur‘ und dort v. a. den 3. Teil des ersten Bandes.] Neurobiologen unserer Zeit verweisen darauf, dass eine Reihe bestimmter, aehnlicher Erlebnisse die Vorraussetzung dafuer ist, um Menschen dazu zu veranlassen zu sagen, dass bestimmte Zusammenhaenge regelhaft und so notwendig sind. Diese Regelhaftigkeiten sind verursacht durch Aehnlichkeiten von Ereignissen und Erlebnissen. „Das ist ganz praktisch, denn die Regeln von gestern gibt es morgen auch noch.“, aeusserte dazu Manfred Spitzer. Er weist so darauf hin, dass ‚gleich bleibendes‘ unserer Erfahrung dem Menschen orientieren ermoeglicht. (Vgl. Manfred Spitzer: Wie lernt das Gehirn? , S. 6. Vortrag. Hier verlinkt.)

Vermutlich also tragen unsere neurophysiologische Plastizitaet und kulturell erworbene Seh-Gewohnheiten dazu bei, dass Menschen Vorstellungen von ‚gleich bleibend‘ entwickeln. Die meisten Menschen sind zu sehr mit ihrer Lebensgestaltung beschaeftigt, als dass sie merkten, in welchem Ausmass sie einzelne, sich aehnlich wiederholende Erlebnisse in ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. ummuenzen und irgendwann ganz selbstverstaendlich behaupten, bestimmte Dinge seien ‚gleich bleibend‘. Es wird vergessen, dass dies nur begrenzt gueltig ist. Diese Neigung fuehrt dann – wenn es um religioese Wahrheiten geht – zu gefaehrlichen Einstellungen und Konsequenzen. In der abendlaendischen Philosophie entwickelte sich daraus der Mainstream ‚Metaphysik‘. Dieser war und ist mit Philosophen bevoelkert, die ‚gleich bleibendes‘ ins Auge fassten und ihr Philosophieren mit entsprechenden Spekulationen zu diesem Ziel hintreiben wollten. Dabei loesten sie ‚gleich bleibendes‘ aus dem Lebenszusammenhang heraus. Sie verabsolutierten eine Eigenschaft. Diese ‚Wahrheitsliebhaber‘ haben sich zwar in der Gegenwart mehrheitlich von der Metaphysik losgesagt. Sie verraten aber durch die verschiedensten Hinweise ihre implizite Neigung dafuer. Am deutlichsten zeigt sie sich, wenn Philosophen dafuer eintreten, dass sie ‚recht haben‘. Philosophische Gespraeche, die vom ‚argumentieren‘ (u. a. ‚beweisen‘) leben, sind dafuer charakteristisch.

Ich behaupte, dass Philosophen, die davon ausgehen, dass die Wahrheit keiner je kannte, noch kennt, noch je kennen wird, nicht recht haben moechten. Sie halten ‚recht haben‘ naemlich weder fuer moeglich, noch fuer nuetzlich. Diese Idee, dass ‚recht haben wollen‘ weder eine philosophische Tugend sei noch dem ‚philosophieren‘ nuetze, hoerte ich vor Jahren zum ersten Mal von dem Philosophen Rolf Reinhold. Er sagt ueber sich, dass ‚recht haben wollen‘ nicht seine Sache sei. In vielen Gespraechen mit ihm seit 2006 habe ich die positive Wirksamkeit seiner Maxime an mir selber erlebt. Reinholds ‚akzeptieren‘ statt ‚argumentieren‘ hat es mir ermoeglicht zu merken, dass mein ‚recht haben wollen‘ nicht nur meinem eigenen Philosophieren im Wege stand, sondern auch meinem Handeln.

Individuelle Sichten



„Die Dinge sind für mich so, wie sie sich mir zeigen, und für dich so, wie sie dir sich zeigen.“ Und so ist „der Mensch das Maß aller Dinge“

Das Altgriechische ‚chremata‘ des Homo-Mensura-Satzes, den die Quellen Protagoras zuschrieben, hat eine aehnlich weitreichende Bedeutung, wie das deutsche Wort ‚Dinge‘, mit dem es wiedergegeben wird. ‚chrema‘ bezeichnet: „Alles, womit der Mensch hantiert, womit er etwas anfangen, was er zu seinen Zwecken gebrauchen kann, oder auch womit er zu schaffen, zu tun hat. in diesem Sinne Sache, Ding, Stueck, Ereignis, Erscheinung, Vorfall, Geschaeft. Im Besonderen heißt bald der Mensch selbst ‚chrema‘ : Ding, Geschoepf, ein Wunder (von Frau) . Im Plural erscheint ‚chremata‘ als Sammelbegriff für Habseligkeiten, Hab und Gut, Sklaven, Herden Jagdtiere… Vermoegen, Leben, Macht, Machtmittel … etc.“ steht in der digitalen Version von Papes griechisch-deutschem Woerterbuch. Dem verbalen Stammwort ‚chraomai‘ – im Altgriechischen sind Substantive fast immer Ableitungen des Verbs – entsprechen Terme wie  „… eine Sache, sich zu Eigen machen, auch leihen. In Bezug auf Goetter verehren, sie als Gottheit annehmen, mit ihnen verkehren, sie befragen. Mit eigenen Anlagen, Kraeften verfahren, ihnen gemaeß handeln. sie benutzen, zeigen. Gesetze befolgen, einhalten. Zustaende, Gefuehle empfinden, mit ihnen zu tun haben; sich in Umstaende zu schicken wissen, den Staat verwalten; mit gegebenen Verhaeltnissen umgehen; mit Kuensten, Wissenschaften, Gewerben hantieren; kaufen, verkaufen; …“

Aus allen diesen moeglichen Uebersetzungen laesst sich schließen, dass der Homo-Mensura-Satz sich auf alle Lebensbereiche bzw. auf unser gesamtes Verhalten bezieht – auch im Hinblick auf den Menschen selber. Er koennte auch heißen: „Was immer der Mensch tut, er tut es auf seine Weise.“ Oder: „Individuelles ist unhintergehbar“. Dieses Grundprinzip menschlichen Verhaltens duerfte im Alltag des antiken Griechenland und auch unter Wissenschaftlern (Sophoi, Sophisten und Philosophen) allgemein akzeptiert gewesen zu sein. Es zeigte sich m. E. in den offen endenden platonischen Dialogen oder in den miteinander konkurrierenden Philosophien oder im Wechsel unterschiedlicher Regierungsformen und politischen Entscheidungen oder in den unterschiedlichen Sichtweisen oeffentlicher Reden … etc. Individuelles wurde durch gemeinsam geteilte kulturelle und religioese Traditionen und Gesetze begrenzt. Die Verletzung des traditionellen Goetterglaubens war todeswürdig. Trotzdem war niemand „… an ein heiliges Recht gebunden waren, welches Religion und Staat zusammenkettete, … kein Klerus in Art der aegyptischen Priester, der Magier und Chaldaeer … war [vorhanden], welcher … im Namen einer vorhandenen, einzig berechtigten Lehre unterdruecken konnte.“ [Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte: Achter Abschnitt. Zur Philosophie, Wissenschaft und Redekunst, S. 97. Digitale Bibliothek Band 55: Geschichte des Altertums, S. 10692] Diese Lehre, die unterdrückt, gab es für unseren Kulturkreis erst mit der Verbreitung des Christentums in Europa. Mit ihm ist m.E. das von den Griechen praktizierte Naturprinzip des Individuellen zugunsten behaupteter Wahrheit und richtiger Moralitaet nachhaltig verdraengt worden.

Ueber den Mythos des Geistigen



Meine Ablehnung von Erkenntnistheorien bezieht sich u.a. auf deren Setzungen wie z.B. ‚Geist‘, ‚Vernunft‘, ‚Verstand‘, ‚wahr‘, ‚falsch‘, Wissen, … etc., die aber in erkenntnistheoretischen Loesungen nicht als Setzungen ausgewiesen wurden, sondern im Gebrauch der Worte den Charakter des Faktischen annahmen und so gewohnheitsmaeßig die Selbstverstaendlichkeit des Geistigen und aller damit verbundenen geistigen Faehigkeiten kreiert haben dürften. Jeder der diese Ueberlegung nicht teilt, wird sie argumentativ mehr oder weniger geschickt und eventuell mit dem Hinweis auf wissenschaftliche Autoritaeten verwerfen.

Ohne auf denkbare Argumente einzugehen, ist weiter von Bedeutung, dass die im Diskurs zwischen verschiedenen Erkenntnistheorien zum Faktum erhobene Behauptung ‚der Geist ist etwas‘ verbunden wurde mit der abendlaendischen Behauptung, der menschliche Geist sei besser als der menschliche Koerper. Eine Behauptung die u.a. bei Augustin Thagaste zu finden ist, der seinem „Prinzip der Innerlichkeit“ folgend meinte: „Melius quod interius.“ (Bekenntnisse 10.6.9 )
Diese Idee, dass ‚innere‘, ‚geistige‘ Erkenntnis hoeherwertiger sei als Schlussfolgerungen aus ’sensorieren‘, zieht sich als unbemerkte Behauptung selbstverstaendlich durch jede Erkenntnistheorie. Sie foerdert die Auffassung, dass grundsaetzlich jede Theorie der Praxis überlegen sei. Es koennte sein, dass neuzeitliche Erkenntnistheoriker als Soehne und Toechter der ihnen auferlegten metaphysischen Schulung im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams und gegen die aufklaererische Forderung ’sapere aude‘ die Pflicht erfuellen, die von den Altvorderen aufgestellten Behauptungen nachzuweisen, um sie weiterhin zu benutzen und um darueber hinauszugehen: Erkenntnistheoretiker naemlich behaupten, dass geistige d.h. apriorische Erkenntnisse jeweils Grundlage unseres ‚handeln‘ seien. Eine Behauptung, die noch heute m. E. unnoetige Graeben zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Sichtweisen aufreißt. Die als Loesung angesehene Behauptung duerfte in Zeiten autoritaetsorientierten Philosophierens vermutlich als funktional betrachtet werden koennen, aber in Zeiten des Beduerfnisses nach zunehmender Eigenstaendigkeit und nach Authentizitaet als verzichtbare Beschraenkung erlebt werden.

Hume hatte dazu bemerkt, dass der Verzicht auf die unreflektierte Uebernahme von Behauptungen frueherer Autoritaeten, alle deren Behauptungen fragwuerdig, wenn nicht hinfaellig macht. Es bleibt ohne Autoritaet nur noch die jeweils eigene Sicht auf die Dinge. Statt von Behauptungen anderer auszugehen, kann ein Mensch sich dann bloß auf das beziehen, was ein Mensch jeweils kennen kann. Die Philosophiegeschichte dokumentiert, dass es in der Philosophie bisher selten vorgekommen ist, dass eigenstaendig philosophiert wurde, wie es die antiken Philosophen gefordert hatten. Im Gegenteil: Es hat sich im Bemuehen um Gewissheit im philosophischen Denken der westlichen Welt etwas verfestigt, das als Denkverbot funktioniert: „Du sollst den Geist, die Vernunft, … etc. nicht in Frage stellen!“ Macht jemand sich daran zu schaffen, steht er in Gefahr philosophisch ignoriert zu werden. Dekonstruktion ruft Empoerung hervor. Das duerfte sich nachteilig fuer eine philosophische Weiterentwicklung auswirken koennen.

Die hier skizzierten, vermuteten Zusammenhaenge verdienen aus meiner Sicht nicht den Namen ‚Dekonstruktion‘: dazu muessten sehr viel weiter fuehrende Ueberlegungen angestellt werden. Sie taugen m. E. aber dazu, um begruendete Fragen zu stellen und ein Gefuehl des Unbehagens hervorzurufen.

Gewissheiten und ‚letzte Gruende‘



Unter den ersten Huetten, die Menschen sich bauten, waren solche, die auf Pfaehlen standen. Diese Konstruktion diente vermutlich dem Schutz vor Gefahren. Solange die Pfaehle hielten, konnten sie mehr oder weniger lange Garanten dieses Schutzes sein.

Gewissheiten werden erworben

Aehnlich duerfte es sich mit Gewissheiten verhalten, die Menschen fuer sich erfinden. Ich denke, Menschen brauchen Gewissheiten, nur scheinen sich Menschen in der Regel nicht darueber im klaren zu sein, wie es sich mit Gewissheiten verhaelt, bzw. wie es um die jeweilig eigenen bestellt ist. Gewissheiten scheinen ‚mit der sich wiederholenden Abfolge aehnlicher Ereignisse‘ (David Hume) zu entstehen. Sie beruhen also auf Vergangenem, sind ‚Setzungen aus Erfahrung‘ (Rolf Reinhold) und koennen daher nur eine probabilistische Sicherheit bieten. Ein anderer Schutz als dieser scheint uns Menschen nicht zur Verfuegung zu stehen.

Inzwischen erlaeutern Neurowissenschaftler: Sich aehnlich wiederholende afferente Ereignisse und ihnen folgende efferente Ereignisse ergeben mit der Zeit bestimmte neuronale Aktivitaetsmuster. Durch diese quasi regelgeleitete Arbeitsweise wird unsere organische Effizienz optimiert. Dies laesst sich u.a. an allen unseren motorischen Faehigkeiten (Bewegungen einschließlich Sprache=’handeln‘) ablesen, die jeweils erworbene Aktivitaetsmuster voraussetzen. Der Erwerb solcher Aktivitaetsmuster ist u.a. an Zeit und Wiederholung gebunden. Feststellbar ist aber auch, dass neuronale Aktivitaetsmuster durch optimierte ersetzt werden koennen. Unter Leistungssportbedingungen genuegt es z.B. nicht, die ueblicherweise erworbenen Bewegungsablaeufe einzusetzen. Bewegungsablaeufe muessen veraendert werden, wenn jemand im Wettbewerb mit anderen mithalten moechte. Die Veraenderung erfolgt ueber Reflektion der eigenen Bewegungsablaeufe unter Einbeziehung sportwissenschaftlicher Forschungsergebnisse und dem Trainieren veraenderter Bewegungsablaeufe.

Gewissheiten aendern sich

Menschen leben mit vielen Gewissheiten, meistens ohne damit zu rechnen, dass Gewissheiten, wie alles im menschlichen Leben Veraenderungen unterworfen ist. Auch unsere pfahlhuettenbauenden Vorfahren duerften erlebt haben, dass Holz im Wasser stehend seine Stabilitaet verliert. Die Gewissheit, dass die Waende eines Hauses stabil seien, wird kontrastiert durch die Tatsache, dass fast unmerklich, aber dennoch kontinuierlich der Putz von den Waenden rieselt. Wollmaeuse weisen darauf hin, dass Stoffe und Tapeten Fasern, Gegenstaende aller Art kleinste Teilchen verlieren. Die Dinge nutzen sich ab. Reparaturen oder gar Neuanschaffungen werden noetig.

Unser Koerper ist vielfaeltigen Veraenderungen unterworfen. Belege dafuer koennen sein, Hautteile, Schuppen, die sich in Matrazen, im Badewasser und in Kleidungsstuecken wiederfinden. Wir altern. Hunger, Durst, Muedigkeit signalisieren Veraenderungen. Der Gewissheit: Ich bin jetzt satt, folgt die Gewissheit: Ich habe Hunger. Wir beschließen den Tag mit der Gewissheit fuer heute genug getan zu haben, um am naechsten Morgen mit der Gewissheit aufzustehen, dass es noch viel zu tun gibt. Die Gewissheit, dass eine bestimmte Dienstleistung von einem ganz bestimmten Betrieb angeboten wird, muessen wir aufgeben, wenn dieser Betrieb schließt.

Beton in den Städten, Tomaten auf den Augen und Bohnen in den Ohren?

Waehrend wir den Verlust alltaeglicher Gewissheiten in der Regel – gelegentlich unter Unmutsbezeugungen akzeptieren – gibt es eine Art von Gewissheiten, die wir nur schwer oder gar nicht aufgeben moechten oder koennen. M.E. handelt es sich dabei um die Gewissheiten, mit denen wir am laengsten vertraut sind. Menschen neigen dazu an lang vertrauten Gewissheiten auch gegen andersartige Ereignisse festzuhalten. Je geringer die Anzahl der Ereignisse ist, die einer bestimmten Gewissheit entgegenstehen, desto leichter scheint dies zu gelingen. Der bekannte Spruch: „Die Ausnahme bestaetigt die Regel!“ kann fuer derartige Konstruktionen stehen. Man bezeichnet dies als „Nicht-Wahrhaben-Wollen“. Max von der Gruen beschrieb in seinem Buch „Wie war das eigentlich?“ ueber seine Kindheit und Jugend im Dritten Reich das Phaenomen, dass die Menschen oft bemerkten, wenn sie von Graeueltaten hoerten: „Wenn das der Fuehrer wuesste!“ Er bewertete dies als Flucht aus der Verantwortung und Ergebnis einer geschickten Progaganda. Im augenblicklichen Zusammenhang dient mir dieses Phänomen außerdem zur Vervollstaendigung der Betrachtung menschlichen Verhaltens an teuren Gewissheiten festhalten zu wollen. Der Wert des einmal Gefassten wirkt kontraproduktiv auf unsere lebensnotwendige Faehigkeit adaequat zu denken und zu handeln. Der Asphalt unserer Staedte, der Beton unserer Gebaeude macht die zivilisierte Scheinwirklichkeit fundamental. Erst Naturkatastrophen – Verbrechen und Kriege in aehnlicher Weise – wecken das Grauen vor dem Verlust unserer Gewissheiten.

Verwandeln von Gewissheiten in Annahmen und Praesenz

Menschen duerften den Blick fuer die Realitaet verlieren, wenn sie an Gewissheiten unbeirrt festhalten moechten. Letzteres praegt aus meiner Sicht das Schicksal Einzelner und ganzer Kulturen genauso wie das Schicksal von Metaphysikern, die sich als Philosophen bezeichnen, aber laengst den menschlichen Boden unter ihren Fueßen verloren haben, waehrend sie aus alter Gewohnheit nach letzten Gruenden, also nach unwandelbaren Gewissheiten suchen. Dass wir ueber derartige Vorhaben nicht mehrheitlich in schallendes Gelaechter ausbrechen, duerfte ein Indiz dafuer sein, wie nah vielen von uns das Beduerfnis nach letzten Gewissheiten sein duerfte. Metaphysiker gehen beispielhaft voran: Sie stuerzen sich denkend in Abgruende, woraus sie sich in den quasi-religioesen Glauben ihrer Erkenntnisse retten. Menschliches Leben aber kann nicht mehr als voruebergehende Gewissheiten schaffen. Um unser ‚handeln‘ adaequat vollziehen zu koennen, scheinen mir kurzlebige Gewissheiten voellig ausreichend. „Jeder Schritt ist der erste!“ lautet ein Koan aus Rolf Reinholds Philosophie. Gewissheiten sind ihm unbekannt. Er geht konsequent von Annahmen aus. Mein lange verstorbener Metaphysiklehrer meinte: „Es kommt auf die Gegenwart an.“ Gegenwart war fuer ihn jeder einzelne, kleinste Jetztpunkt (Augenblick) einer langen Reihe von Jetztpunkten und einzig wirkliche Ort menschlichen Handelns und Nachdenkens, der sich beim Tun verfluechtigt.

sensorieren und sinnliche Wahrnehmungen



Sinnliche Wahrnehmungen hatte ich in meinen metaphysischen Zeiten: Sie waren das, dem ich wohl oder uebel nicht entkommen konnte. Sie stoerten aber mein zielstrebiges Tun und Denken. Sie zeigten sich widerspenstig und fuegten sich mit den Jahren immer seltener, in das, was ich dachte und erreichen wollte. Oft erschlugen sie mich einfach und ich wollte nur noch Ruhe vor ihnen haben.

Inzwischen habe ich festgestellt, dass es fuer mich einen Unterschied macht, ob ich von sinnlichen Wahrnehmungen spreche oder von ’sensorieren‘. Mit sinnlichen Wahrnehmungen verbinde ich ‚Erkenntnistheorie‘ – mit ’sensorieren‘ die Vorstellung von meiner ‚Einheit Koerper‘ . Erkenntnistheorie dient der Rechtfertigung von Wissen ueber Handeln – ’sensorieren‘ meinem ‚handeln‘. ‚physistisch philosophieren‘ dient so mir und meiner Autonomie , die mir – obwohl in Aussicht gestellt – Erkenntnistheoretie, bzw. Metaphysik nie ermoeglichten. Das duerfte daran liegen, dass der Metaphysik jede konkrete Soliditaet fehlt: sie metaphorisiert Konkretes ins scheinbar eigentliche „Sein“ des ‚Geistes‘, das seit Jahrhunderten hoehlenplatonisch als die eigentliche Wirklichkeit erreichbar in Aussicht gestellt wird. Im Moment bin ich versucht meinen Emotionen zu folgen. Ich war sehr lange damit beschaeftigt herauszufinden, was andere meinen, wenn sie die Metaphysik empfehlen. Doch ich lasse meine Emotionen lieber beiseite. Was ich hier schreibe, duerfte schon irritierend genug sein.

Von der Metaphysik bzw. der Erkenntnistheorie versprach ich mir Impulse fuer mein ‚handeln‘. Die Impulse blieben aus,  aber es stellten sich Impulse ein, die anderen Einsichten zu folgen schienen. Metaphysiker haben – um auch solche Phaenomene erklaeren zu koennen – vor zwei Jahrhunderten eine eigene Wissenschaft ins Leben gerufen, die sie Psychologie nannten. In schlimmsten Zeiten beschrieb ich mich als fremd gesteuert. Diese Redeweise war eine Folge entsprechender psychologischer Theorien. In meinen besten Zeiten hatte ich Hoffnung, dass ich effizient wuerde handeln koennen, wenn ich es nur richtig machte. Das ‚richtig-machen-muessen‘ passte zu meiner Berufstaetigkeit: Lehrerinnen sind qua Berufsrolle darauf verpflichtet, alles, aber auch wirklich alles richtig zu machen. Referendare duerften dies noch kennen. Spaeter verdraengt man das, sonst bringt es einen um. Aber es hinterlaesst an der Oberflaeche eine Empfindsamkeit, die von anderen als Kritikunfaehigkeit bezeichnet wird und sich durch Abwehr kundtut,  die ’sensorieren‘ veraendert und beeintraechtigt.

Tatsaechlich wirksam zeigte sich aber das Lucy-Syndrom: Eine Erfindung von Charles Schulz fuer den Kreis seiner „Peanuts“ . Sie sagt anderen stets ganz unverbluemt, was sie zu tun haben und weist sie auf ihre Charakterfehler hin. Sie hat immer recht und sie ist der Typus des ‚ungeselligen Menschen‘, den Kant bei seiner Kritik der reinen Vernunft im Auge hatte: Denn sie geht davon aus, dass sie andere eigentlich nicht braucht. Wozu auch? Vernunft hat sie selber und die ausschlieszlich braucht sie nach Auskunft vieler, vieler Philosophengenerationen, um richtig zu ‚handeln‘. Insofern ist Lucy eine aufgeklaerte Frau, die daran arbeitet, alles und jeden in den Griff zu kriegen.

Ich finde, Lucy macht deutlich, wohin Aufklaerung durch Vernunft fuehrt.