’sensorieren‘ thematisiert philosophische Tabus
Fuer Philosophen stellt die Beschraenkung auf ’sensorieren‘ so etwas wie eine ‚philosophische Todsuende‘ dar. Todsuende insofern, als infolge dieser Beschraenkung philosophisch auf alles verzichtet wird, was nicht ’sensoriert‘ werden kann. Dazu gehoert fast alles, was in den zurueckliegenden Jahrhunderten Philosophiegeschichte philosophisch thematisiert und Quelle fuer Theorien und spekulative Systeme wurde, die bis heute dauernde und einigungsresistente ‚Schulstreitigkeiten‘ im Gefolge haben. Ich meine das, was Descartes der ‚res cogitans‘ zurechnet oder Kant unter ‚Vernunft und Verstand‘ abhandelt. Die mehrheitlich geltende kulturhistorische, theologische und philosophische Auffassung, dass bereits im antiken Griechenland Philosophen in aehnlicher Weise philosophiert haetten, verlieh m.E. den Auffassungen von der Herrschaft des Geistigen ueber Sinnliches ein ‚wahrheitsaehnliches‘ Gewicht. Philosophen, die vom ’sensorieren‘ ausgehen, laufen Gefahr als ’so genannte Philosophen‘ bezeichnet zu werden.
Bis heute sind ‚Geist‘, ‚Verstand‘ und ‚Vernunft‘ unter Philosophen selbstverstaendliche Begriffe. Wenn man sie auch z.B. in ‚Sprachspielen‘ anders betrachtet und anders handhabt, als dies ihre aelteren Erfinder taten, so wird doch damit so philosophiert, als koennten Menschen davon ausgehen, dass diese Termini das bezeichnen, das Menschen anregt und bewegt. Dies entspricht auch den Auffassungen vieler Menschen. Die Meinung, wir koennten unser Handeln vernuenftig steuern, ist so alt wie unser Kulturkreis und scheint mehrheitlich ungebrochen gebraeuchlich. Philosophische Profis unterstuetzen bis heute diese Gewohnheit zu denken, und erklaeren: Menschen „… sind vernuenftig handelnde … Wesen.“ (Peter Bieri: Ensemble von Faehigkeiten. DIE ZEIT 44/2007 S. 28 [http://www.zeit.de/2007/44/Peter-Bieri-5])
’sensorieren‘, heißt verzichten auf ‚metaphysizieren‘
Fuer ‚physistisch philosophieren‘ ist es ausschließlich relevant von dem auszugehen, was Menschen kennen. Unbekanntes wie z.B. ‚Geist‘ und ‚Vernunft‘ –’metaphysizieren‘ – ist daher nicht Gegenstand von ‚physistisch philosophieren‘. ‚Sachen‘ haben Vorrang vor ‚Theorien‘. ‚hinsehen‘ und ‚beschreiben‘ bezeichnen ‚modi operandi‘ von ‚physistisch philosophieren‘. Dem ’sensorieren‘ entspringen dieser ‚modi operandi‘ ebenso wie jeder weiteren Weise zu ‚handeln‘.
Mit der Beschraenkung auf ’sensorieren‘ wird ein Verzicht geleistet, der vielen Philosophen schmerzlich schwer fallen duerfte, vor allem , wenn sie eine akademische Ausbildung haben. Nach meiner Erfahrung wird im universitaeren Philosophiestudium ausschließlich Theorie gelehrt, die sich mit Fragen befasst, die praktisch irrelevant sind.
Positiv daran ist, dass akademisch gebildete Philosophen viele Kenntnisse ueber zahlreiche Theorien und Ideen haben duerften. Diese Kenntnisse koennten aus meiner Sicht dem interdisziplinaeren und gesellschaftsweiten Diskurs nuetzlich gemacht werden, wenn sie im Hinblick auf die ‚ Sachen‘ erforscht und ausgewertet wuerden, die philosophische Theorien und Ideen betreffen.
Die negativen Auswirkungen einer derartigen wissenschaftlichen Ausbildung, die ’sensorieren‘ ignoriert, duerfte zum einen die Unkenntnis darueber sein, wie das Hingehen zu den Sachen, wie ‚hinsehen‘ und ‚beschreiben‘ philosophisch fruchtbar gemacht werden koennen. Zum anderen neigen Menschen dazu, an dem zu haengen, mit dem sie sich jahrelang beschaeftigen. Erfahrung impliziert Werte. Dies gilt fuer Philosophen gleichermaßen. Auf erworbene Werte zu verzichten – auch wenn es dafuer gute Gruende geben kann – ist schmerzlich. Dies kann ich aus meinem eigenen Umlernen bestaetigen.
’sensorieren‘ ermoeglicht ‚authentisches‘
Menschen, die nicht derartig vorgebildet sind, duerfte es leichter fallen, ihr ’sensorieren‘ inspirierend zu erleben. Es duerfte Menschen geben, die praktizierend– ohne dies zu reflektieren – von dem ausgehen, was sie an Kenntnissen gewonnen haben und gewinnen koennen. Dies koennten Menschen sein, die Individualitaet auf Authentisches gruenden und damit ‚im Trend der Zeit‘ liegen, in dem – denke ich – uralte Menschheitsideale wie Eigenstaendigkeit und urmenschliche Beduerfnisse nach Mitmenschlichkeit implizit wirksam werden.
’sensorieren‘ bezeichnet
die umfassende, neuronale Aktivitaet unseres Koerpers.
Mit dem Terminus ‚Sensoren‘ koennen meinen Informationen nach inzwischen alle Nervenzellen bezeichnet werden. Im Zusammenhang mit dem was jede von ihnen erregt, interagieren sie untereinander, miteinander, auf, mit und in unserem Zentralnervensystem mit dem gesamten Koerper, seinen Teilen und biochemischen Prozessen. Dabei geschehen fortlaufend Veraenderungen von Veraenderungen in, an und um Sensoren, Synapsen, Koerperzellen und biochemischen Prozessen, was wiederum Veraenderungen hervorruft, die veraendernd wirken, um wieder Veraenderungen hervorzurufen, … Dieses in jedem Moment mit mindestens 100 Milliarden von einzelnen Aktivitaeten taetige neuronale Netz arbeitet unbemerkt von jedem Individuum, dem es zur Verfuegung steht. Es haelt uns im Zusammenhang mit unzaehligen biochemischen Prozessen am Leben.
Und was ist mit den Sinnesempfindungen? Die sind bereits darin enthalten. Denn sie koennen m.E. als Pertubationen von unserer Umgebung aufgefasst werden, die in unseren peripher gelegenen Sensoren jeweils spezifische Veraenderungen bzw. Aktivitaeten ausloesen. Ich gehe – meinem Kenntnisstand entsprechend – davon aus, dass die Muster der neuronalen Aktivitaeten einzelner Sensoren sowohl periphaer als auch intern aehnlich sein duerften.
‚pertubieren‘ bzw. ‚Pertubation‘ sind Termini, die ich bei Francisco Varela und Umberto Maturana gelesen habe. Damit bezeichnen die beiden Biologen ganz unspezifisch alles, was Zellen zu inneren und aeußeren Veraenderungen veranlasst. Dies laesst sich m.E. auch auf komplexe und hoch differenzierte neuronal vernetzte Zellverbaende wie Menschen anwenden. ‚anregen‘ waere eine zutreffende deutsche Bezeichnung. Die Pertubationen Rolf Reinhold’s initiierten und begleiten mein gegenwaertiges Philosophieren neben vielen verschiedenen anderen. Termini wie pertubieren, anregen und synaptische Veraenderungen meines ZNS fuer ‚lernen‘ sind in unserer Kommunikation gang und gaebe.
Ich habe mit der Zusammenfassung von biologischen und neurowissenschaftlichen Kenntnissen in philosophischer Hinsicht ‚menschliche Natur‘ thematisiert. Mit der Verwendung von Termini wie ‚pertubieren‘, ‚Aktivitaet‘ und ‚Prozessen‘ habe ich implizit Schlussfolgerungen und Hypothesen anderer mit verwendet, die eigentlich naeher erlaeutert werden muessten. Auf Nachfragen tue ich das gern. Die Unterscheidung zwischen ‚Aktivitaet‘ und ‚Prozess‘ hat Rolf Reinhold vorgenommen. ‚Aktivitaet‘ bezieht er immer auf Neuronales. ‚Prozess‘ waere alles UEbrige. Inhaltlich sind die Vorstellungen der beiden Termini noch unvollstaendig, d.h. in Arbeit. ‚Aktivitaet‘ bezeichnete ungefaehr das dynamische Prinzip von Nervenzellen, waehrend ‚Prozess‘ eine eher ueberschaubaren Ablaufes im Blick hat, der in und zwischen anderen Zellen passieren kann und der moeglicherweise einen klar zu bestimmenden Anfang und ein Ende hat. Zwischen ‚Aktivitaet‘ und ‚Prozess‘ zu unterscheiden, koennte auch von allgemeiner philosophischer Beutung sein, die ich aber noch nicht naeher erlaeutern kann.