‚handeln‘ – einige Anmerkungen


‚hinsehen‘ und ‚herausfinden‘ als Ausgangspunkt

Meine Sichtweise auf ‚handeln‘ ist inzwischen durch ‚hinsehen‘ gepraegt. D.h. ich gehe davon aus, was m.E. jeder andere auch sehen kann, wenn er moechte. Wenn ich von Beobachtungen spreche, handelt es sich um Auswertungen meines ‚hinsehen‘, die ich auch als Schlussfolgerungen bzw. Spekulationen bezeichnen kann, um zu verdeutlichen, dass diese sich erst einmal nur für mich als zutreffend erweisen koennen. Es gibt m.E. keinen neutralen Standpunkt bzw. kein apriorisches Wissen, das sich zur Ueberpruefung meiner Schlussfolgerungen bzw. Spekulationen eignete. ’nachdenken‘ anderer darueber und ‚herausfinden‘, was es damit auf sich haben koennte, schon eher. Fuer alle Einwaende bzw. Kommentare brauche ich von meinen Gespraechspartnern Konkretes, um zu kapieren, wovon sie sprechen – ja, ich bin geradezu versessen darauf und stoere so zum Nachteil des Diskurses die Kreise anderer, die sich dadurch in Frage gestellt fuehlen. Dieses Handicap meines ‚philosophieren‘ duerfte vielen den Zugang zu ‚physistisch philosophieren‘ verwehren.

‚handeln‘ vollzieht sich ‚je nach dem‘ anders auf der Grundlage eines momentanen physischen Zustand

‚handeln‘ geschieht unterschiedlich ausgepraegt und unterschiedlich haeufig und doch als von physischen Zuständen ausgehend. Menschen atmen, gehen, sprechen, verdauen … je nach den Gegebenheiten ihrer augenblicklichen Verfassung und der Situation, auch im Hinblick auf Ziele – sagen sie. Dieses laesst sich m.E. auch so zusammenfassen: Der Mensch handelt ‚je nach dem‘ anders und folgt doch momentanen physischen Zustaenden bzw. eigenen Plaenen. Dass letztere ‚handeln‘ wirksam steuern, scheint mir unwahrscheinlich. Nach meinen Beobachtungen versagen menschliche Plaene, wenn unbekannte Situationen eintreten. Mein ‚hinsehen‘ ergab bisher: keine Situation gleicht einer anderen. Die Vergleichbarkeit duerfte sich nur aus der ‚Sache‘ ergeben, um die es geht. M.E. genuegt dies fuers erste, die grundsaetzliche Wirksamkeit von ‚planen‘ ausreichend fraglich erscheinen zu lassen. ‚handeln‘ duerfte also – ohne die behauptete Wirksamkeit bewusster Plaene – das jeweilige momentane Ergebnis, die Entscheidung aller koerperlichen Funktionen einschliesslich aller neurophysiologischen Aktivitaeten sein. Hinweise auf geistige und seelische Funktionen halte ich fuer traditionelle, metaphysische Erklaerungsmodelle. Sie entbehren jeder konkreten Grundlage und scheinen so untauglich fuer ‚physistisch philosophieren‘. Physistik verwendet gleichfalls Erklaerungsmodelle, die sich von anderen dadurch unterscheiden, dass sie ueberpruefbar sind.

Traditionelle Theorien und Systeme ignorieren Merkmale von ‚handeln‘

Das Sowohl-als-auch von ununterbrochenen Veraenderungen und momentanen physischen Zuständen des ‚handeln‘ ist mit systematisch-theoretischen Mitteln nicht zu fassen, denn Systematisches braucht feste Bezugspunkte, die pragmatisch m.E. nicht gegeben sein koennen. Welche Situation, welche augenblickliche Verfassung wiederholt sich? Trotzdem entwerfen Wissenschaftler Handlungstheorien und Philosophen Systeme fuer Ethiken und Moral und fordern andere auf, diese Erfindungen umzusetzen. Als Spezialisten fuer Systeme des Menschlichen koennen Philosophen und Psychologen gelten, die sich dazu heute zunehmend selbstverstaendlicher auf neurobiologische Ergebnisse stuetzen. Sie gehen dabei ferner von Annahmen wie ‚Geist‘, ‚Bewusstsein‘, ‚Ich‘, ‚Wollen‘, ‚Vernunft‘, … aus, die sich aus physistischer Sicht bisher als unueberpruefbare Denkfiguren erwiesen haben. Ich moechte deren Gebrauch daher niemandem streitig machen, moechte sie aber dem Bereich der Metaphysik zuordnen und aus ‚Eigentliche Philosophie‘ ausklammern. Sowohl der metaphysische Rahmen als auch die innerhalb der Metaphysik aufeinander bezogenen Denkfiguren und Bezeichnungen haben quasi religioesen Glaubenscharakter und stehen fuer deren Vertreter in der Regel nicht zur Disposition. Im Diskurs erweisen sich der Rahmen ‚Metaphysik‘ und ‚Metaphyzismen‘ als ‚ergebnisabschließend‘ (‚das ist so‘) und daher kontraproduktiv.

Skepsis wird als Instrument von ‚handeln‘ vom Mainstream der Philosophie ausgegrenzt

Innerhalb der Philosophie scheint ‚hinsehen‘ bzw. Skepsis als fragwuerdige bzw. unbrauchbare Qualitaet des Philosophierens zu gelten. Religioes-glaeubige Philosophen des ausgehenden 17. Jahrhunderts  sahen in der Skepsis neben dem Atheismus einen Hauptfeind der Religion und wahren Philosophie, also eine Gefahr für deren Wahrheit und Wahrheiten. Die Feindseligkeit glaeubiger Weltbilder gegenueber der Skepsis aeussert sich noch heute in der ueblichen, die Sache verkürzende  Gleichsetzung von Skepsis und Zweifel (u.a. bei Wikipedia). Das Herkunftswoerterbuch von Duden gibt die seit dem spaeten 17. Jahrhundert in Gelehrtenkreisen gebraeuchliche Bedeutung deshalb auch mit „Zweifel und Bedenken“ wieder. Die urspruengliche Bedeutung „Betrachtung, Untersuchung, Pruefung“ ist im Alltag und in den Menschenwissenschaften aus der Mode gekommen. Philosophen scheinen dies auch entgegen philosophiehistorischer Forschungen zu uebersehen. Meiners Enzyklopaedie der Philosophie aber nennt Skepsis als Bezeichnung fuer die ‚eigentliche Philosophie‘.

’sich in Frage stellen lassen‘

Geschichtlich gewachsenen Feindbildern ist diskursiv nicht beizukommen. Dazu braucht es Menschen, die bereit sind, sich im Diskurs in Frage stellen zu lassen. ‚physistisch philosophieren‘ ist ein Angebot an solche Menschen.

‚handeln‘ kann dieses Sich-in-Frage-stellen hervorrufen. Menschen handeln ‚je nach dem‘, d.h. situativ. Sie handeln auch nach Mustern: „Ich handle immer so …“ Wenn es zutrifft, dass ‚handeln‘ von der jeweiligen Verfassung und der Situation abhaengt, dann duerfte dies in unserer Kultur die tradierte Befuerchtung hervorrufen, es werde hier die menschliche Freiheit verneint und unverzichtbare Werte aufgegeben. Diese Befuerchtung ist menschlich. Menschen waehnen sich durch Gewohntes in Sicherheit und in greifbarer Naehe zu ewigen Dingen. Kants Entwurf einer transzendentalen Philosophie ist m.E. ein Beispiel dafuer. Seine Abstrakta entsprechen den Kriterien des Gewohnten.

Dichotomische Sichten vermischen ‚handeln‘ mit unbrauchbaren Spekulationen

Die Moeglichkeit menschlicher Entscheidungsfreiheit verneine ich nicht. Ich verneine aber, dass der unueberpruefbaren Denkfigur Ich dieses ‚handeln‘ zugeschrieben werden koenne. ‚Ich‘ und alle weiteren Metaphyzismen sind m.E. Produkte eines dichotomischen Philosophierens, das den Menschen geteilt in Koerper|Geist auffasst. Im Laufe der Entstehung unserer Kultur haben sich aus dieser Vorstellung heraus  Prinzipien zur Bewertung von Handeln eingebuergert, die uns heute unnoetigerweise einschränken und so den Blick auf moegliche andere Prinzipien verwehren. Das Produkt Koerper|Geist taugt heute m.E. nicht mehr, weil es so aussieht, dass immer mehr Menschen von ihrer individuellen Verfassung und ihren konkreten eigenen Gegebenheiten ausgehen moechten, um herauszufinden, wie sie wirksam handeln bzw. ihre Wirksamkeit verbessern koennen. Menschen moechten sich an Vorstellungen orientieren, die zu ihrem Leben und nicht zu Theorien anderer passen. Sich an diesen Orientierungen anregend und redlich zu beteiligen halte ich fuer ein menschlich lohnendes, philosophisches Betaetigungsfeld.