Wahles Kritik der Erkenntnis

Seit Locke hat sich ‚Erkenntnistheorie‘ als Disziplin der traditionellen Philosophie etabliert. Dabei geht es um die Frage, was können wir ‚wissen‘ und wie kommen Menschen zu verlässlichen Erkenntnissen. Kant war einer der letzten, der mit einem ausgeklügelten System die Frage im Sinne von ‚Erkenntnis ist möglich‘ beantwortete. Er gab mit seiner ‚Kritik der reinen Vernunft‘, indem er bekannte Begriffe zerlegte und z. T. verändert anwendete, seinen Lesern viele Probleme auf. Zeitgenossen hielten seine Transzendentalphilosophie für eine gelungene Variante der Lösung des Erkenntnisproblems, die wissenschaftlichen Standard im Kreis anderer Wissenschaften beanspruchen konnte. Es gab aber auch eine Reihe von Widersprüchen, die im wesentlichen bemängelten, dass er das unausgesprochen voraussetzte, was er behauptete bewiesen zu haben. In dieser Hinsicht hatte Kant so etwas wie einen „blinden Fleck“. Und viele, die ihm folgten, schienen unter einer vergleichbaren Blindheit zu leiden. 

Als Wahle Ende des 19. Jahrhunderts zu philosophieren begann, war Kant im deutschsprachigen Raum ein anerkannter und viel interpretierter Philosoph. Wahle  behauptete nun, dass die Sehnsucht nach Wissen unerfüllbar sei. Vor allem neurobiologische Ergebnisse aus der Hirn- und Nervenforschung seiner Zeit sprachen aus seiner Sicht dagegen. 

Er distanzierte sich im Hinblick auf ‚Wissen‘ von vertrauten philosophischen Selbstverständlichkeiten. U. a. von Begriffen wie Materie, Subjekt, Geist, Ich, Bewusstsein, von der Behauptung es gäbe ein ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Aus seiner Sicht führte dies zu Irrtümern, die die tatsächlichen Sachverhalte verbergen. Der grundlegende, tatsächliche Sachverhalt von dem er ausging, waren die ‚Vorkommnisse unter dem Bestand der Sinne‘. Aus den ‚Vorkommnissen‘ können wir schlussfolgern, dass wir etwas vor uns haben, was als Objekt bezeichnet, jedoch nicht bestimmt werden kann. Erinnerungen von und Phantasien aus ‚Vorkommnissen‘ ergeben keine Kenntnisse, die man als Wissen bezeichnen dürfe.

Statt über ‚Geist‘ sprach er von Psychischem. Psychisches sei wie etwas „Gewordenes, Ernährtes und Wurzelndes“. Eine Art Produkt, das erforschbar ist. ‚Geworden‘ heißt: Das Nervensystem ermöglicht uns von Geburt an zu empfinden, d. h. Vorkommnisse zu erleben. Die frühen Vorkommnisse sind Basis unserer Vorstellungen und bahnen unserer ‚geistigen Entwicklung‘. ‚Ernährtes‘ heißt, unser Nervensystem produziert lebenslang Vorkommnisse, mit denen wir unser Leben gestalten. ‚Wurzelndes‘ : Psychisches ist stets mit dem Nervensystem verbunden. D. h. der Mechanismus unseres Denkens bzw. geistigen Lebens ist physiologisch bedingt. Mechanismus meint die chemischen und physikalischen Prozesse unseres Nervensystems.

Dass ohne unser Nervensystem die Welt so ist, wie wir sie mit ihm wahrnehmen, ist eine unbegründete Annahme. Unsere Wünsche nach Wissen sind also vergeblich, weil wir niemals davon ausgehen können ohne unser Nervensystem zu leben. Dies gilt auch für die Verwendung von physikalischen und chemischen Hilfsmitteln: Wir haben stets ‚Vorkommnisse unter dem Bestand der Sinne‘. (Vgl. zum gesamten Abschnitt: Wahle: Über den Mechanismus des geistigen Lebens, S. 34-50)

 

 

Theorien im wissenschaftlichen Diskurs


Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Grundlagenforschung.

Ich gehe davon aus, dass der Mensch nur das denken kann, was seine physische Organisation – zu denen seine Sensoren gehoeren – ihm zur Verfuegung stellt. Diesen Gedanken stellte ich vor kurzem in einer interdisziplinaeren, universitaeren AG zum Diskurs. Dieser Gedanke sei trivial, niemand gehe davon aus, dass es anders sei, schallte mir entgegen. Die Antwort verblueffte mich. Ich stolpere naemlich seit Jahren darueber, dass Wissenschaftler von Theorien ausgehen, anstatt von dem, was wir sensorieren koennen.


Neurobiologie und Neuropsychologie

Ein Beispiel kann illustrieren, wie ich ins Stolpern komme.

„Das Interesse an den neurobiologischen bzw. neuropsychologischen Vorgaengen, die menschlichen Lern- und Entwicklungsprozessen zugrunde liegen, hat sich in den letzten Jahren zusehends gesteigert. … In zunehmendem Masse gerieten die Grundlagen der menschlichen Persoenlichkeitsentwicklung, der Handlungsplanung, der Ich-Funktionen oder der zwischenmenschlichen Kommunikation in den Blick, also das, was man als wesentliche Bereiche der menschlichen ‚Psyche‘ zu bezeichnen geneigt waere.“ [Guenter Schiepek (Hg.): Neurobiologie der Psychotherapie. (u.a. mit Beitraegen von Gerhard Roth, Manfred Spitzer, Manfred Lambertz, Volker Perlitz, Kai Vogeley, Christian Schubert …) Stuttgart (Schattauer) 2003,  S. 1.] Auszug bei Google-Buch

Die Psychologie verwendet philosophische Begriffe

Ich stolperte zuerst ueber den Terminus  „Interesse an den neurobiologischen bzw. neuropsychologischen Vorgaengen“. Mir ist bekannt, dass es mindestens seit dem 17. Jahrhundert ueblich ist, Gehirn und Psyche wissenschaftlich zu korrelieren. U.a. hat auch die Idee „Aether“ die wissenschaftlich-neurobiologische Szene dieser Zeit beherrscht. Man versprach sich eventuell von ihr, den „Begriff“ bzw. das Erklaerungsmodell „Psyche“ konkretisieren zu koennen. In diesem Sinne hat dann Christian Wolff’s Auffassung von Psychologie im 18. Jahrhundert zusammen mit den Forschungsergebnissen von Naturwissenschaftlern wie z.B.   Joseph Priestley , Charles Bonnet und Samuel Thomas Soemmering europaweit psychisches Geschehen im Gehirn verortet. Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts gingen davon einvernehmlich aus, wie u.a. Soemmerring in einem Brief an Kant erwaehnte.

Die dichotomische Theorie dahinter

Auch folgendes steckt m.E. hinter dem einleitenden Text bei Schiepek. Man moechte  Neurobiologisches und Neuropsychologisches als einander Ebenbuertiges auffassen. Die Annahme, dass Seelisches und Koerperliches sich in praestabilisierter Harmonie befaenden, wie z.B. bei Leibniz nachzulesen, mag die Selbstverstaendlichkeit solch wissenschaftlichen Hantierens zusaetzlich erlaeutern. Die m.E. ausschlaggebende Theorie dahinter aber heisst: Der Mensch besteht aus Koerper und Geist. Oder wie Descartes unterschied: Es gibt „res cogitans“ und „res extensa“. Die „res cogitans“ sei der „res extensa“ ueberlegen, fuehrte er weiter aus und folgte so alten ontologischen Auffassungen. Daraus folgerte er: Denkend erfasse der Mensch seine und jede andere Wirklichkeit, wenn er nach bestimmten Methoden vorgehe. Diese Methoden haben quasi apriorischen Charakter . Derartiges stellte meine oben erwaehnte Annahme, der Mensch kann nur denken, was er sensoriert, auf den Kopf und ich überlegte, wie auf diese Art und Weise sensorieren und denken verbunden sein könnten.

Frag-würdige Überprüfung von Theorien

Das ergab fuer mich die Vermutung, man wende wissenschaftlich bereits seit langem erhobene psychologische Termini und Erklaerungen auf neu entdeckte naturwissenschaftliche Sachverhalte an. Diese Vorgehensweise zieht sich durch jede Wissenschaftsgeschichte. Die dabei möglicherweise intendierte Ueberpruefung von Theorien, indem man sie anwendet, duerfte aber kaum gelingen, solange man sich grundlegenden Fragenstellungen an die eigene Theoriebildung entzieht, wie z.B. der folgenden:  Es soll naemlich „… hier davon ausgegangen werden, dass eine … Bezugnahme von geistigen Phaenomenen auf Hirnprozesse prinzipiell moeglich ist, …“ (Schiepek, 424)  Solche selbstverstaendlich verwendeten Voraussetzungen veranlassen mich stets zu grosser Distanz gegenueber dem, was dann als „wissenschaftliche Erkenntnisse“ praesentiert wird. Es war in diesem Fall z.B. voellig unklar, was der Terminus ‚geistige Phaenomene‘ bezeichnen soll. D.h. es wurde eine weitere Denkgewohnheit unhinterfragt verwendet. Diese Denkgewohnheit implizierten u.a. Mitbedeutungen wie: Geist sei etwas und habe die Macht oder Kraft auf unseren Koerper zu wirken.

Der selbstverständliche Gebrauch von Denkgewohnheiten wirkt verhängnisvoll

Hume hatte dieses „Wissen“ im 18. Jahrhundert m.E. durch Hinsehen auf die Dinge gruendlich in Frage gestellt.  Die Mehrzahl der Wissenschaftler zeigte sich seit Jahrhunderten unbeeindruckt von seinen Anregungen. Mir faellt es leicht zu Humeschen Beschreibungen ja zu sagen. Ich habe aus eigenem Erleben die Wirksamkeit selbstverstaendlich gueltiger Denkgewohnheiten und Auffassungen kennen gelernt. Ich bin ueber ihre negativen Folgen fuer mein Handeln nachdenklich geworden. Deshalb unterstelle ich Wissenschaftlern versuchsweise, dass sie das gleiche Verhaengnis wie ich erleiden. Sie leiden moeglicherweise an der platonisch-aristotelischen Krankheit, Dichtungen fuer Konkretes zu halten und sind unermuedlich auf der Suche nach Anzeichen dafuer, dass ihre in diesem Kontext erfundenen Theorien „wahr“ sind.

Wie weitreichend die Auswirkungen solcher Vorgehensweisen sind, liess sich fuer mich am zweiten Teil des Eingangszitates erahnen: „In zunehmendem Masse gerieten die Grundlagen der menschlichen Persoenlichkeitsentwicklung, der Handlungsplanung, der Ich-Funktionen oder der zwischenmenschlichen Kommunikation in den Blick, also das, was man als wesentliche Bereiche der menschlichen ‚Psyche‘ zu bezeichnen geneigt waere.“ Hier sollen komplette psychologische Forschungsbereiche im Verein mit voellig unterschiedlichen Auffassungen ueber „Persoenlichkeit, Handeln, Ich und Kommunikation“ miteinbezogen und mit neurobiologischen Grundlagen ausgestattet werden. Ich fragte mich, ob der Herausgeber sich nicht doch etwas viel vorgenommen hat. Koennte es sein, dass unerforschte Voraussetzungen zur Omnipotenz verleiten? Konkrete Beispiele fuer derartige Vermutungen kenne ich.

Neurobiologisch gestützte Spekulationen statt ‚hinsehen‘ auf die Dinge

Ich interpretierte diesen Ansatz schliesslich als Hinweis darauf, dass man daran interessiert sei, das Gespraech ueber neurobiologische Forschungsergebnisse nicht zu versaeumen, ohne sich ueber die eigenen Voraussetzungen Gedanken zu machen. Anders gesagt, ich hatte den Eindruck, man moechte bisher geuebte Theorien beibehalten und sie auf neurobiologische Forschungen stuetzen koennen. Aehnliches schien ein Mitautor des Schiepek-Bandes,  Kai Vogeley anzunehmen, wenn er von „neurobiologisch gestuetzten Spekulationen“ spricht. (Vgl. Kai Vogeley: Selbstbewusstsein, soziale Kognition und Hirnruhezustand . Aus einer Online-Veroeffentlichung der Arbeitsgruppe „Signsofidenty“ der Philosophischen Fakultaet der Leibniz Universitaet Hannover.)

Die Fragwuerdigkeit eigener Grundlagen wird ignoriert

Daraus folgerte ich, in dem vorliegenden Band wurden Theorien vor das Hinsehen gesetzt und so neu Sensorierbares gewohnheitsmaessig interpretiert. Das entsprach nicht meiner Sicht auf den Zusammenhang zwischen ’sensorieren‘ und ‚denken‘. Ich lasse Sensoriertes von meiner physischen Organisation verarbeiten und warte ab, welche Worte mir dazu einfallen. Marginalisiert wird dabei ausserdem, dass man innerhalb der Psychologie laengst bemerkt hat, dass Selbstverstaendlichkeiten sich aufloesen: „In den Kulturwissenschaften, in der Soziologie und der Psychologie ist fraglich geworden, inwieweit … und in welcher Form Begriffe wie „Subjekt“, „Person“, „Ich“, „Selbst“, die zum Grundbestand alteuropaeischer Denktradition gehoeren (Luhmann), … der Dekonstruktion standhalten koennen.“ Ebd.

Der Konsens – so fiel mir dazu ein -, den Augustin von Thagaste mit Freunden und Verwandten Ende des 4. Jahrhunderts in der Naehe von Rom herstellen konnte, dass der Mensch aus Geist und Koerper bestehe, ist schon seit laengerem nicht mehr unser Konsens.

Folgen: unzutreffende Schlussfolgerungen

Theorien über Menschliches gehen implizit immer noch davon aus.  So kommt es im Fall der „Neurobiologie der Psychotherapie“ zu weitreichenden, aber aus meiner Sicht sehr irrtumsträchtigen Aussagen, weil der Sachverhalt nicht beobachtbar ist: „Zumindest kann die Neurobiologie heute in groben Zuegen angeben, ‚wie das Gehirn die Seele macht‘.“ (Ebd. S. 41.) Mir fiel dazu ein Gespraech mit meinem Schwager ein, der als Physiker auf neurobiologischen Terrain forscht. Er sah ausgehend von der Sache keinerlei Moeglichkeiten derartige Aussagen machen zu koennen. Die experimentellen Settings zu diesem Thema verbinden nichts weiter als Aussagen der Probanden mit ihren Messergebnissen. (Vgl. Benjamin Libet : Mind Time. Frankfurt am Main (Suhrkamp TB) 2007, S.34ff. ) Derartige Schlussfolgerungen verbunden mit folgender verschlagen mir die Sprache. „Die Ergebnisse der Hirnforschung sowie der entsprechenden medizinischen Disziplinen machen plausibel, dass es sich bei der Beziehung zwischen mentalen Zustaenden und Hirnprozessen um eine sehr enge Korrelation handelt.“ (Schiepek, 424) Das wunderte mich nicht, denn man war ja bereits davon ausgegangen, dass diese Beziehung moeglich sei. Es verstärkte meine Idee, dass die wissenschaftshistorische Erforschung des Bezuges von Theorien zu Konkretem sehr wichtig sein dürfte.

Ich moechte anfuegen, dass auch ich ohne Theorie nicht handeln und forschen kann. Ich nenne das, wovon ich denkend und handelnd im Hinblick auf mein ’sensorieren‘ ausgehe, dank eines gruendlich ueberlegten Vorschlages von Rolf Reinhold, Annahmen – kleine Wolken. Sie haben den Vorteil, dass ich sie stets auf Konkretes beziehen und daher auch leicht korrigieren kann.

Man sieht, was man sieht und sieht nicht, was man nicht sieht.

Komplexe Theorien wie im Eingangszitat erwaehnt, die weitere wie „Ich“, „Bewusstsein“, „Geist“, „Seele“, „Subjekt“, „Objekt“ implizieren, scheinen infolge ihrer jahrhundertelangen Tradition des selbstverstaendlichen Gebrauches den Anschein von Fachwissen zu erwecken. Die Gewohnheit, Voraussetzungen im Sinne von Wissen anzuwenden, fuehrt vermutlich dazu, zu behaupten: Wir gehen alle denkend nur von dem aus, was wir sensorieren.

„Man kann doch sehen, dass die eine Billiardkugel die Ursache dafuer ist, dass die andere sich in Bewegung setzt!“, wurde Hume – und wird jedem der dies demonstriert – gegen seine auf ’sensorieren‘ bezogene skeptische Auffassung zum Dogma der Kausalitaet entgegengehalten. Was wir sehen, so antwortete Hume, ist, dass ein Ereignis dem anderen folgt. Rolf Reinhold wuerde ergaenzen, insofern ist das erste Ereignis die Ur-Sache. Hume resuemierte weiter, wir finden nichts an  einem erstmaligen Ereignis, das uns veranlassen koennte, konkrete Wirkungen verlaesslich vorauszusagen. Erst wenn wir wiederholt erlebt haben, dass einem bestimmten Ereignis immer wieder ein weiteres aehnliches Ereignis folgt, sagen wir: Wir sehen, dass das erste das zweite bewirkt. Hume fiel nichts Plausibleres ein, als dies Gewohnheit zu nennen, wobei er einraeumte, nicht zu wissen, wie es dazu kaeme. Derartige erworbene Sehgewohnheiten beherrschen als Erwartungen unser menschliches Denken und Handeln ueberall. Menschen neigen dazu, ihre Erwartungen bestätigt zu sehen. Darin duerften auch Wissenschaftler keine Ausnahme machen.

Fragwürdige Sicherheiten aufgeben

Wir sollten Sehgewohnheiten verlassen koennen, wenn wir interdisziplinaer weiter kommen moechten. Ich moechte aber warnen: Dabei koennte sich folgendes ergeben: „Die wahrgenommene qualitative Verschiedenheit der sich in der psychischen und der neuronalen Dimension manifestierenden Phaenomene liegt … an der unterschiedlichen Repraesentation ein und desselben Geschehens im Bewusstsein des Betrachters.“ (Mike Luedmann: Schizophrenie im Angesicht des Leib-Seele-Problems. Journal fuer Philosophie & Psychiatrie, Jg. 2 , 2009, Ausgabe 1.) Fachwissenschaftler duerften diesen Vorgang als schmerzliche Dekonstruktion eigenen Wissens erleben. Wenn ferner entsprechende Forschungsprogramme durchaus relevante Ergebnisse fuer die psychologische Praxis ergeben, auch „… wenn eine reduktive Erklaerung mentaler Phaenomene scheitert. …“, duerfte dies weitreichende Folgen fuer die jeweilige Wissenschaft haben. (Vgl. Guenter Schiepek: Die neuronale Selbstorganisation des Selbst.Ein Beitrag zum Verhaeltnis von neuronalen und mentalen Prozessen aus Sicht der Synergetik* (*Wissenschaft der Selbstorganisation)PDF-Datei.

Physistik statt Metaphysik

Traditionelle Sehgewohnheiten zu merken, scheint mir daher ein nuetzlicher Beitrag für den interdisziplinaeren Diskurs. Rolf Reinhold’s Idee Dinge zu beschreiben, die wir gemeinsam aspektualisieren können, koennte dazu beitragen unsere Basisannahmen nicht nur denkend gegenwaertig und so revidierbar zu halten, sondern sie auch so ueberschaubar wie nur moeglich zu halten.

Urspruenge unserer Weltbilder


‚Sich-ein-Bild-machen‘ scheint in der Regel, eher im Sinne von sich festlegen, gebraeuchlich zu sein. Etwas mehr Bewegung kommt ins Spiel, wenn jemand sagt, er moechte ’sich selber einen Eindruck von etwas verschaffen‘. Wenn Menschen ‚Eindruecke sammeln‘, scheint das Bild noch nicht in Sicht.

Eindruecke

Eindruecke von etwas oder von jemandem koennen sehr unterschiedlich ausfallen. Manchmal so unterschiedlich, dass man sich fragt: „Wo hatte ich nur meine Augen?“
Menschen duerften immer wieder erleben, wie irrtumsanfaellig eigene Eindruecke sein koennen. Viele irrtuemliche Eindruecke koennen – wie Shakespeare mit dem dramatischen Stoff des Othello illustriert – zu tragischen Folgen fuehren.

unmittelbare und mittelbare Eindruecke

Die Aussage ’sich einen Eindruck verschaffen‘, scheint – wie die rueckbezuegliche grammatische Konstruktion – auf den Urheber zu verweisen. Das trifft uebrigens auch fuer die Aussage ’sich ein Bild machen‘ zu. Zwei Menschen, die gemeinsam etwas erleben, gewinnen – wie sich gespraechsweise ergibt – verschiedene Eindruecke. Wir Menschen kommen immer wieder in Situationen uns einen Eindruck von etwas zu verschaffen oder uns ein Bild von etwas zu machen, bei dem wir nicht unmittelbar dabei gewesen sind.

eigene Kenntnisse

Wie stellen wir eine Art stimmigen Eindruck her, um zu sagen, ‚glaube ich‘ oder ‚glaube ich nicht‘ oder ‚das koennte sein‘ oder ‚das war so‘ ?
Unstrittig duerften Kenntnisse noetig sein. Erzaehlt z.B. jemand, er sei mit nur einer 40l-Tankfuellung von Hamburg bis Muenchen durchgefahren ohne nachzutanken, duerften wir leicht entscheiden koennen, was davon zu halten ist. Schwieriger oder gar aussichtslos wird es, wenn uns jemand etwas berichtet, wovon wir in der Sache wenig oder keine Ahnung haben.

eigene Erlebnisse und daraus gewonnene Erfahrungen

Weitere Kriterien fuer einen stimmigen Eindruck koennten Menschenkenntnis und Lebenserfahrung sein. Kinder nehmen meist alles, was man ihnen erzaehlt fuer ‚bare Muenze‘. Mit zunehmender Erfahrung und erweiterten Kenntnissen aendert sich dies.  Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass eigene Erlebnisse und dass was Menschen daraus an Erfahrung gewinnen, unser eigenes Sensorium, konkret unsere Sensoren – veranlassen, Erlebtes, Gehoertes, Gelesenes zu bewerten, indem Impulse von Neuronen gehemmt, ignoriert oder akzeptiert werden. Kein Mensch aber dürfte die gleichen Erlebnisse gehabt haben wie ein anderer.

für jeden sind die Dinge so, wie sie ihm erscheinen

Das jeweilige Kriterium fuer Stimmigkeit duerfte also individuell verschieden sein. Wenn Menschen also sagen, dass sie sich selbst einen Eindruck verschaffen oder Eindruecke sammeln moechten, um sich ein Bild machen zu koennen, dann duerfte das Ergebnis ausschliesslich ihr eigenes Bild sein. Die Irrtumsanfaelligkeit weist ausserdem darauf hin, dass das individuelle Metrum Schwankungen unterliegt.

von Annahmen ausgehen

Sich ein Bild machen, von sich selber, von einem anderen, von einer Beziehung, von einer Firma … , tut ‚mensch‘ in unserer Kultur und Gesellschaft ganz selbstverstaendlich.

‚Sich-Bilder-machen‘ ist normal

‚Sich-Bilder-machen‘, scheint hilfreich zu sein. ‚Mensch‘ moechte sich orientieren, um handeln zu koennen. Dies tut ‚mensch‘ in der Regel, weil alle dies tun. Landlaeufige Auffassungen wie „Man muss doch wissen, wer man ist!“ oder „Man muss doch wissen, mit wem man es da zu tun hat!“ … machen einem das ‚Bildermachen‘ zur Pflicht, wenn man als normal akzeptiert werden moechte.

‚Bilder von‘ im Hinblick auf Lebensqualität

Menschen halten ‚Bilder von‘ moeglicherweise …

  • fuer hilfreich, weil immer wieder zutreffend …
  • fuer lebensklug, weil auf Kenntnissen beruhend…
  • fuer Schutzschilde, mit denen man sich Enttaeuschungen erspart.

Folgen für die Philosophie

Im Zuge von jahrhundertelangem ‚philosophieren‘ evozierte m.E. dieses allgemein-menschliche Verhalten Menschenbilder, Weltbilder, Gnoseologien, Wertsysteme, Ontologien … mit einem Wort, vielfaeltige Arten von Metaphysiken (‚Bilder von Unterschiedlichem‘) und Metaphysismen (‚unterschiedliche Bilder von Gleichem‘), die – so unterstelle ich – hilfreich, lebensklug und unterstuetzend sein sollen.

Ein Blick in die Philosophiegeschichte – bei mir dauerte er erst mal Jahrzehnte und dann nur noch wenige Jahre – lässt überall Metaphysiken und Metaphyzismen finden. Resuemierend moechte ich sagen, mittelalterliche und neuzeitliche Philosophie thematisiert fast ausschließlich Metaphysik und Metaphyzismen. Auch Materialisten rechne ich darunter, weil sie sich ‚Bilder machen‘, i.S. von „die Welt und den Menschen erklaeren“ – eine weiterer Aspekt von ’sich-ein-Bild-machen‘.

‚physistisch – philosophieren‘ erfindet Annahmen

Physistisch orientierte Philosophen gehen anders vor. Kenntnisse und Erfahrungen von und mit Jemandem oder von und mit Etwas sind das Ergebnis von ‚verarbeiten‘ von ’sensoriertem‘. Diese werden sortiert, d.h. auf Zusammenhaenge und Zuordnungsmoeglichkeiten untereinander und mit bereits vorhandenen Sortierungen hin erforscht. Daraus können sich Muster unterschiedlichster Konstellationen ergeben, die physistisch orientierte Philosophen als Annahmen bezeichnen.

Es werden

  • Moeglichkeiten von Annahmen,
  • Annahmen, die zutreffender als andere zu sein scheinen,
  • Annahmen, die eher abwegig erscheinen,

reflektiert. Damit wird jongliert, d.h. gehandelt.

physistisch geprägte Philosophen handeln spontan

Da physistisch gepraegte Philosophen ihre Annahmen als das betrachten, was sie veranlasst durch Erfahrung und im Hinblick auf Kenntnisse momentan zu vermuten, folgen sie in konkreten Situationen ihren spontanen Impulsen das zu tun und zu sagen, was sie tun und sagen. Sie fuehlen sich angenehm, gelassen und freundlich gestimmt gegen andere.

‚wissen‘ und ‚wahrnehmen‘

‚wahrnehmen’=’sensorieren‘ und ‚philosophieren‘

„physistisch-philosophieren“ geht von dem aus, was ‚wahrnehmbar‘, d.h. ’sensorierbar‘ ist. Gegenstaende dieses ’sensorieren‘ koennen sein: Dinge und Ereignisse, die uns allen zugaenglich sind. Dazu gehoert Alltaegliches – wozu ich auch die Politik zaehle – genauso wie Wissenschaftliches.

Was weiß ich denn?

Jeder einzelne Mensch stoeßt dabei an Grenzen, denn er sensoriert direkt nur das, was ihm selber zugaenglich ist. Daraus resultiert ein eingeschraenkter Kenntnisstand. Seit jeher haben es sich daher Menschen zu eigen gemacht, das was sie nicht mit eigenen Augen sehen konnten, von anderen zu hoeren.

‚wissen‘ – was meinen wir damit?  

 

So entstanden zwei Arten von ‚Wissen‘. Das eine von dem einer sagen konnte, ich weiß wovon ich rede, denn ich habe es gesehen (‚wizan‘ unser Stammwort fuer ‚Wissen‘ heißt: ‚ich habe gesehen‘). Und das andere ‚Wissen‘, das vom ‚Hoeren-Sagen‘ oder vom ‚Gelesen-Haben‘ stammt, ist Wissen aus zweiter, dritter … Hand und selbst beim ‚Gesehen-Haben-Wissen‘ dient es heute der Klarheit hinzuzufuegen: ‚In Wirklichkeit!‘ oder ‚Tatsaechlich!‘ oder ‚Ich war dabei.‘ Manche sagen auch: ‚In echt!‘ Denn seit knapp 100 Jahren gibt es ja Medien, mit denen man etwas sehen kann, was man ohne diese nie sehen koennte.

„Stimmt das?“ – „Ist das wahr?“

Diesen letzten Satz einem antiken Griechen zu sagen, koennte diesen zum Lachen gebracht haben. Auch wenn er durch die Berichte anderer, die anderes gesehen hatten als er, schon daran gewohnt war, dass fuer ihn beim Zuhoeren viele Fragezeichen auftauchten. Um nicht leichtglaeubig zu erscheinen, haben die alten Griechen es sich vermutlich zur Gewohnheit gemacht, nicht nur nach Details zu fragen, um sich einen Reim darauf machen zu koennen, sondern den anderen mit einem Wort daran zu erinnern, dass sie einen wirklichkeitsgetreuen Bericht erwarteten. Dieses Wort hieß: „Alithi?“ Heißt so viel: Wirklich? In Echt? Tatsaechlich? Stimmt das? …

(„Alithi“: Eine barbarische Schreibweise, die eigentlich durch die altgriechische ersetzt werden koennte, wenn dies technisch moeglich waere. Gesprochen wird das ‚th‘ in der Mitte wie das englische ‚th‘.)

Autoritaet braucht ‚Wahrheit‘

Irgendwann kam jemand auf die Idee aus diesem schlichten Wort ein bedeutungsvolles Substantiv zu machen, das ‚alitheia‘ hieß und lateinisch mit ‚veritas‘ und im Deutschen mit „Wahrheit“ wiedergeben wurde. Urspruenglich bezeichneten die alten Griechen damit eine Art Zepter aegyptischer Priester, die im Namen goettlicher Wahrheiten ihr Amt ausuebten.

Aristophanes: „Die ‚Wahrheit‘ liegt in den Wolken.“ 

 

Dieses Wort ‚Wahrheit‘ wiederum erregte die Neigungen von bestimmten Philosophen – Aristophanes soll solche karrikiert haben -, die glaubten, Wissen muesste doch mehr sein, als das, was ich selbst gesehen habe und das was andere mir erzaehlen. Sie ignorierten den urspruenglich konkreten Zusammenhang zwischen Bericht und Ereignis erklaerten deshalb, dass ‚Wahrheit‘ unveraenderlich und ewig sei. Sie dachten dabei eventuell an die Religionen, die fuer ihre ‚Wahrheit‘ nicht nur eintraten, sondern sie auch hatten.

Geruechte sind zaehlebig.  

 

Es haelt sich bis heute das Geruecht: Man koennte „Objektives“, naemlich das was unabhaengig von menschlichem ‚wahrnehmen‘ existiert, irgendwann mal erreichen.