Wir hören und hören doch nicht


Aus Fritz Mauthners philosophischen Nachdenklichkeiten:



„Ein lehrreiches Beispiel dafür, wie unvollständig wir hören, erlebte ich einmal in Nizza. Ich ging im Jardin public in deutschen Gedanken verloren umher. Dabei glaubte ich von Zeit zu Zeit den Berliner Straßenruf zu hören: „Fliegenstöcker“. … Ich blicke auf, sehe wo ich bin und weiß sofort: ich kann hier in Frankreich unmöglich „Fliegenstöcker“ rufen gehört haben. Nun lausche ich aufmerksam darauf, was wohl so ähnlich geklungen haben mag. Wieder ertönt der Ruf. Ich glaube jetzt schon undeutlicher etwas zu vernehmen, was wie „Fliegenstöcker“ klingt; aber nur ähnlich. Wieder ertönt’s. Jetzt unterscheide ich nur noch eine musikalische Tonfolge von drei bis vier Silben und in der ersten Silbe ein langgezogenes i. Ich übe mich nun darin, nach meinem Belieben „Fliegenstöcker“, „Niederwald“ oder „Mittagessen“ in den Ruf hinein zu hören. Das gelingt mir vollkommen. Heraushören kann ich aber kein französisches Wort. Nun gehe ich dem Schalle nach in eine Nebenstraße. So wie ich den Mann erblickt habe, einen „fliegenden“ Glaser, deute und höre ich sofort den richtigen Ruf: „au vitrier“.

Ich habe selbst nie einen Fall beobachtet, aus dem man besser lernen könnte, wie wir gewöhnlich hören. Alles ist ein à peu pres. Wir raten. Vielleicht erhalten wir sogar beim Hören noch weniger Laute zur Kenntnis als Buchstaben beim Lesen. Die Assoziation der Vorstellungen, also unsere Gewohnheit, leistet die Hauptarbeit. Im Verlaufe eines längeren Gespräches oder Geschwätzes verstehen wir jedes Wort des andern. Bei seinem plötzlichen Anruf aber, besonders in einer fremden Sprache, sind wir ratlos, wir haben noch keinen Assoziationskern.“

Fritz Mauthner: Zur Sprachwissenschaft IX. Tier- und Menschensprache: „Vitrier“

 

Assoziationen von amruthgen:

Vor Jahrzehnten lag ich an einem sehr warmen, dämmrigen Sommerabend im Bett und hing den Ereignissen des Tages hinterher. Die Eltern hatten uns ins Bett geschickt. Ich hörte das gleichmäßige Atmen meiner beiden jüngeren, bereits schlafenden Schwestern. Das Fenster stand offen. Das beunruhigte mich etwas, weil es nur wenig über dem Grund außerhalb lag. Ich lauschte nach draußen. Da hörte Ich jemanden meinen Namen rufen. Olli von nebenan? Zuerst zögerte ich, dann sah ich hinaus: Weit und breit niemand zu sehen. Was hatte ich da gehört? Beim ‚wundern‘, bin ich dann eingeschlafen.

Mein Interesse fuer Bataille …

… ergab sich, als ich an einem philosophischen Artikel fuer Wikipedia arbeitete. Der Bataille-Artikel, auf den ich dabei stiesz, war ziemlich unvollstaendig und die philosophischen Teile fuer einen Leser ohne Kenntnisse von Batailles Schriften wenig nachvollziehbar.

Waehrend der Lektuere von Michel Suryas Bataille-Biographie entstand mein erster Eindruck – der sich durch weitere Lektueren bestaetigte -, dass Batailles ’schreiben‘ und ‚denken‘ in sehr ausgepraegter Weise mit dem ersten Fünftel seines Lebens zusammenhing.  Es gibt Philosophen, bei denen sich kaum Spuren derartiger Zusammenhaenge finden.  Bataille thematisierte diesen Zusammenhang. Seine Schriften sind zwar nicht direkt autobiographisch, aber sie nähren sich von seinem Leben, meinte Ian Pindar, Rezensent beim Guardian.

Mein erstes Resuemee war: Es gibt Menschen die erleiden ein Schicksal, das sie dem Chaos aussetzt. Sie arrangieren sich mit diesem Chaos und orientieren sich, indem sie sich z. B. ihr eigenes Utopia erfinden. Georges Bataille scheint zu diesen gehoert zu haben. Er erfand ein unverwechselbares ‚philosophieren‘ innerhalb von Dichtung und Wissenschaft. Die surrealistische Bewegung bot ihm vermutlich einen gesellschaftlich minimal akzeptierten Rahmen, dieses ‚philosophieren‘ in einem Kreis von anderen ‚Utopianern‘ zu tun – ‚Utopisten‘ passt nicht, das Wort hat die Mitbedeutung von Menschen, die eigentlich ueberfluessig sind. Bataille soll sich – nach Auskunft der zwei Biographen Michel Surya und Stuart Kendall – eine Zeitlang in der experimentierfreudigen Gruppe um Alfred Metraux, André Masson, Joan Miró und Michel Leiris sehr wohl gefuehlt haben.

Das Chaos seiner Erlebnisse ergab bestimmte Erfahrungen – Rolf Reinhold bezeichnet – fuer mich sehr brauchbar – ‚Erfahrungen‘, als Schlussfolgerungen aus dem, was ein Mensch erlebt hat. Diese Erfahrungen lieszen Ideen fuer die folgenden, zwei groszen Vorhaben entstehen,

  • 1. … in allem das Gegenteil zu tun und zu denken, was sein Vater getan und gedacht hatte.
    2. … die Gesamtheit aller Arten menschlichen Verhaltens zusammen mit natuerlichen Ablaeufen komplett und umfassend darzustellen.

Keines dieser beiden Vorhaben setzte er vollstaendig um. Mehrere Jahre lang beschaeftigte er sich intensiv mit dem christlichen Glauben. Er wartete auf einen göttlichen Ruf, um Mönch oder Priester zu werden. Er wartete vergeblich. Er fand im christlichen Glauben überhaupt keine Orientierung fuer sein Handeln. Wie seinem Vater blieb Bataille der Zugang zum christlichen Glauben verschlossen. Beim Studieren der Religionsgeschichte fand er dennoch Anregungen fuer sein ‚denken‘.

Die Gesamtheit menschlichen und natuerlichen Lebens, die „Totalitaet des Seins“ entglitt ihm beim ’schreiben‘, was ihm vorgeworfen wurde. Genauso unpassend wäre es, ihm vorzuwerfen, dass er bis ans Lebensende in panischen Schrecken geriet, wenn er sich an seine Kindheit erinnerte.  Die Vielzahl aller Aspekte des Lebens mit einem Blick zu erfassen, halte ich fuer ein XXXL, typisch jugendliches Vorhaben. Hier verschaetzte er seine Faehigkeiten und Kapazitaeten. Ich gehe sogar davon aus, dass Menschen prinzipiell nicht in der Lage sind, eine derartige umfassende XXXL- Sicht – einschlieszlich aller Details – zu bilden. Das macht mich so skeptisch gegen Theorien, mit denen Menschen die Welt verbessern moechten. Bataille machte aus seinen Problemen mit einer umfassenden Theorie eine Tugend und aeuszerte, dass er so seine Souveraenitaet bewahre. Ausrede? Möglich. Für mich handelt es sich eher um die begrenzten Moeglichkeiten sprachlicher Kommunikation, die Bataille als ’schwache Kommunikation‘ bezeichnete.

Alles, was moeglich ist, in die Gesamtheit, in die „Totalitaet seines Seins“ zu integrieren, scheint mir ein charakteristisches Merkmal von Batailles ‚denken‘ zu sein. Ich sehe seine ’neuen Mythen‘, die er erfand, damit im Zusammenhang stehend. Mythen haben den Vorteil, dass sie „alles Moegliche“ verborgen hinter Metaphern mitmeinen und so eine maximale Zahl an Interpretationen zulassen. Als Beispiel ein Satz aus Der Schlieszmuskel der Sonne (L’anus solaire, 1927): „Der grosze Koitus mit der himmlischen Atmosphaere wird durch die Laufbahn der Erde um die Sonne bestimmt.“ Diese Dichtungen mit der Natur wirken auf mich reizvoll. Sie reduzieren außerdem komplexe Zusammenhänge auf ein überschaubares Bild. Und diese Bilder sind Geschichten, die Menschen sich erzählen. Mythen sind Geschichten, die durch Hörensagen umherlaufen. Bataille wollte das gemeinsame Wirken rationaler und irrationaler Elemente in der Welt darstellen. Dazu passend sollte eine neue „mythologische Anthropologie“ nach Art des oben zitierten Satzes entstehen, in der er irrationale Hypothesen darstellen wollte. Auch diese Idee umzusetzen, ist ihm nur in Ansaetzen (Der verfemte Teil,1949.) gelungen. Doch ich finde es anregend und menschlich, wenn Menschen Unvollstaendiges schreiben. Dies kommt meinem philosophisch begruendeten Vorurteil zugute, dass Menschen nie damit fertig werden, die Dinge so zu sehen, wie sie ihnen erscheinen. Da die Menschen und die Dinge sich staendig aendern, aendern sich menschliche Sichten. Um dagegen fertige Sichten zu produzieren, etwas abschließend zu behandeln, müssen Menschen dogmatisch denken, was Bataille nicht getan hat.

„Schreiben heißt, das Glueck suchen. Das Glueck belebt die kleinsten Teile des Universums: das Funkeln der Sterne ist seine Kraft, eine Feldblume sein Zauberspruch. … Der Zipfel des Gluecks ist von der Traurigkeit der Geschichte des Auges (1928) verschleiert. Ohne diese Geschichte waere er unerreichbar.“ (Das obszoene Werk, S. 190.)

Bataille: Entstellungen des Schreckens

„Meine Kindheitserinnerungen werden nur noch ‚entstellt‘ lebendig und darstellbar. Sie erhalten auf diese Weise einen ‚obszoenen Sinn‘.“, schrieb Bataille in Das obszoene Werk (S. 52).

Nur selten – in kleinen Gedichten am Rande und Reminiszenzen zu seinen obszoenen Texten – gelang es Bataille Entstellendes zu kommentieren und darueber zu reflektieren, wie seine literarischen Aeuszerungen zu seinem (Er)Leben passen. Man kann den Menschen nicht raten, Vorurteile aufzugeben, ueberlegte er. Denn diese Vorurteile sind Ergebnisse einer kulturellen Leistung, die sensible und intelligente Menschen geschaffen haben. Und nun verlange man von ihnen einzugestehen, dies sei eine Dummheit gewesen? Das funktioniere nicht. Sensibilitaet und Intelligenz setzten Schrecken und Anziehung der Erotik erst in Gang. Er wolle den Leser in seinen obszoenen Schriften entdecken lassen, ‚wie die Erotik die bewusste Einstellung aufzureiszen vermag‘ (S. 58f). Er ertrug sein Denken ueber Tod und Exzess und Sexualitaet kaum. Immer wieder wurde mir das Lesen unertraeglich. Er vernichte sich beim Schreiben selber. Im Exzess, in der Zusammenschau aller Aspekte von Tod und Sexualitaet fand er nichts wieder, auch Gott nicht (60).

„Ich bin keineswegs geneigt, die Wollust fuer das Wesentlichste auf der Welt zu halten. Der Mensch ist nicht auf das Organ der Lust beschraenkt. Aber dieses Organ lehrt den Menschen (s)ein Geheimnis, das man nicht eingestehen kann. | Es gibt keinen Grund, der sexuellen Liebe eine Bedeutung zuzuschreiben, die nur das gesamte Leben besitzt …“ (S. 60f) Es war mir moeglich, ueber diese Totalitaet zu sprechen. Doch das, was ich sagen wollte, entglitt mir, wenn ich die Grenzen ueberschritt, innerhalb derer ich in geordneten Saetzen schrieb. Auf diese Weise erhielt ich mir meine Souveraenitaet (62).

„Gott ist das Grauen in mir ueber das, was war,
ueber das, was ist, und ueber das, was sein wird,
so GRAUENHAFT war, ist und sein wird,
dass ich es um jeden Preis leugnen
und mit aller Kraft schreien sollte,
ich leugne, dass es so war, dass es so ist
und dass es so sein wird,
aber ich werde luegen.“
(90)

Bataille wurde lebenslang von Erinnerungen an den erschreckenden, koerperlichen Zustand seines Vaters und dessen Leiden gequaelt. Sein Leben begann mit dem Tod, schrieb sein Biograph Michel Surya. Hinzu kamen Erinnerungen an Kindheitserlebnisse in Verbindung mit heterogenen, d. h. gesellschaftlich verachteten Auffassungen von Sexualitaet, die er in Das obszoene Werk thematisiert, ohne zu sagen, so war es. ‚Ich bin ein Kind des Schreckens.‘ (81) kommentierte er seine Erinnerungen und ‚ich hatte vor allem Sexuellen Angst‘.(7)

Georges Bataille und Marion Luckow: Das obszoene Werk. Reinbek b. Hamburg 2012, 22. Auflage. (Die Ziffern im Text beziehen sich auf Seiten dieser Ausgabe.)

Batailles heterogenes ‚philosophieren‘

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Philosophie zu einer ganz bestimmten Philosophie verfestigt. Ihre Vertreter sehen sich als Hueter eines Denkens, das sie als abendlaendisch charakterisieren. In der Gegenwart kann man lesen, dass es in der Philosophie vor allem um Begriffe (Wolfgang  Roed) geht oder um den Geist (Ansgar Beckermann) oder um die Sprache (Analytische Philosophie) geht. Alle diese Philosophen philosophieren rueckwaertsgewandt: Sie gehen davon aus, in einer Tradition zu stehen, die ihnen die Mittel fuer ein ‚richtiges‘ Philosophieren zur Verfuegung stellt und die es ihnen ermoeglicht, philosophische Texte angemessen zu interpretieren. Bei meinen philosophischen Forschungen vor allem ueber Hume, Berkeley und Bacon, aber auch Mach, Wahle und Mautner ist mir immer wieder aufgefallen, dass Philosophen so etwas wie eine im Studium erworbene Lesebrille aufhaben und nur noch das in Texten finden, was diese Brille ihnen sichtbar macht. So z. B. bei Hume, dem eine neue Kausalitaetstheorie zugeschrieben wird, waehrend er davon ausgeht, dass die angeblich beobachtbare Kausalitaet eine Folge menschlichen Verhaltens ist, die er als Gewohnheit bezeichnet. Es freut mich, wenn z. B. Poststrukturalisten mit Neuem experimentieren.

„Wie kann sich einer ausdruecken, der die Philosophen zum Schweigen bringt, wenn nicht auf eine Art, die sie nicht begreifen?“ (Bataille: Anmerkungen zum Vorwort zu Madame Edwarda (1941). In: Das obszoene Werk. Hamburg 1972. S. 62.) Dies ist das Dilemma eines Philosophen, der auszerhalb der universitaeren Philosophie philosophiert. Hume’s Rezeption hat sein praktizierter konformer Sprachgebrauch nichts genuetzt. Haeufig wurde und wird sogar beklagt, dass er viele Worte um ’nichts‘ mache, waehrend er erlaeuterte, was er sich bei seinen Worten dachte. Die Frage, ob viele Philosophen ueberhaupt begriffen haben, was Hume thematisiert, wird nicht gestellt. Dies frage ich mich bei Batailles Rezeption auch des öfteren.

Bataille stellte aehnliches fest und „… wirft der traditionellen Philosophie vor, dass sie … Grenzerfahrungen, wie sie etwa in der Erotik oder in Rausch- und Traumzustaenden gemacht werden, ausschlieszt. Er bezweifelt die Berechtigung solch eines Philosophierens, ‚das den intensivsten Gemuetsbewegungen fremd gegenuebersteht‘. Bataille sieht im herkoemmlichen philosophischen Diskurs den Ausdruck der ‚profanen, homogenen Welt‘, … .“  Nikolaus Halmer

Die homogene Philosophie, wie die homogene Kultur überhaupt, weigert sich, das mit einzubeziehen, was ihr fremd, d.h. heteronom zu sein scheint. Bataille entwarf eine Allgemeine Theorie der Oekonomie, das Zusammenspiel von Homogenem und Heteronomem wirksam im Interesse aller Menschen, die Gegenstand des philosophischen Gedankenaustausches sein könnte .  Die gegenseitige “ … Befriedigung von Beduerfnissen … spielt eine bedeutende Rolle im Leben. … [es] liegt etwas Unheimliches in der Verachtung, die die deutsche Ethik zugunsten eines ‚unbefleckten Idealismus‘ ueber dieses pragmatische Denken ausschuettet. Der kategorische Imperativ Kants rufe bei ihm – so Dewey bereits 1914 – das Bild eines Kasernenhof-Korporals wach. (Dewey: Deutsche Philosophie und deutsche Politik. Wien/Berlin 2000, S.112f.)

Bataille machte sich zum Fuersprecher menschlicher Beduerfnisse, ungeachtet der Tatsache, ob sie akzeptiert oder verfemt wurden. Er war in einer Welt aufgewachsen, in der das Verfemte und seine Folgen wie die Syphilis seines Vaters, sowie der Tod, sein Erschrecken und Gewalt zum Alltag gehoerten. Dies schloss die Batailles von der homogenen Kultur aus. Es nuetzte ihnen nichts, sich um Akzeptanz zu bemuehen. Erst die surrealistische Bewegung hat es dem juengsten Bataille ermoeglicht, mit Einschraenkungen „dazu zu gehoeren“.

Bataille verwirbelt die Namen

Der Surrealismus ist eine „universelle Revolte … in der sich, George Bataille zufolge, zugleich der tumultuarische Geist einer ganzen Generation reflektiert. … diese hat auch die Themen und Formen vorgegeben, die selbst unseren Protest heute noch determinieren, bis hin zur Studentenrevolte, ja, sogar noch darueber hinaus. Am Ende des 20. Jahrhunderts scheinen wir immer noch an jenem Punkt zu stehen, der durch den Surrealismus an seinem Beginn bezeichnet wurde. Und darin liegt zugleich seine unverminderte Aktualitaet. Darin manifestiert sich … auch seine geschichtsphilosophische Besonderheit …“*

Derart ausgedehnte Charakterisierungen der surrealistischen Bewegung sind in der juengeren Literatur anzutreffen. Weltweit werden surrealistische Ideen in Literatur, Philosophie, Theater, Film. Poesie und bildnerischer Kunst diskutiert und dargestellt. Nach meinem bisherigen Eindruck war Bataille auf eine Weise surrealistisch, die etwas neben der Idee ueblicher surrealistischer Erfindungen lag. Er erfand surrealistische Vorstellungen, die nur aus seiner Lebenserfahrung hervorkamen und die neue Sichten auf einen unbekannten Bios bzw. „heteronome“ Lebenswerte in Aussicht stellten.

Folgt man Bezeichnungen wie ‚Revolte‘, ‚tumultuarischer Geist‘, dann koennte man schlussfolgern, George Bataille sei ‚ein Rebell‘ gewesen. Aber auch ‚Exkrementenphilosoph‘, ‚paradoxe Philosophie‘, ‚obszoene Texte‘, … etc. werden ueber ihn und sein philosophierendes Schriftstellern gesagt. Klassifizierende Interpretationen geben einen engen, ‚homogenen‘ Raum fuer Interpretationen vor, die Batailles offenem, ‚heterogenem‘ Schreiben Grenzen setzen. Zusaetzlich sind seine eigenen Namensgebungen fuer Zusammenhaenge und Sachverhalte fuer jeden Leser interpretationsbeduerftig. Das gilt zwar fuer jedes Lesen von Texten anderer, aber Bataille’s Texte signalisieren das mit anstoeszigen Merkmalen. Im Erfinden von Interpretationen schlussfolgern alle Interpretatoren immer wieder begrenzt zu sein. Eigene Aeuszerungen werden auszerdem als viel zu enges Haus empfunden. Mir geht es nicht anders. Dabei entsteht Lachen ueber eigene Reflexionen und über das, was durch Fremdes angeregt wird. Auf diese Weise bekomme ich eine vage Vorstellung von dem, was mich an Bataille fasziniert. Sie umfasst Spielerisches, moegliche Unmoeglichkeiten und Naives. Philosophische Probleme sind blosz laecherlich, meinte der skeptische Hume. Das stimmt!

Vertreter der surrealistischen Bewegung hatten und haben den Wunsch, neue Ausdrucksmittel zu erfinden. Neue Woerter und Metaphern gehoerten zu ihren Arbeitsgebieten, genauso wie neue bildnerische und musikalische Ausdrucksmittel. Bataille hat sich damit hervorgetan, neue Bedeutungen zu erfinden, indem er bekannte Termini in einen neuen Kontext rueckte. Das tut eigentlich jeder irgendwie, aber es werden – vor allem unter Philosophen – selten Konsequenzen daraus gezogen. Batailles Bedeutungsvarianten sind durch seine Reflexion innerviert, i. S. v. mit sensorischen Reizen versorgt und haben ihn zu weiteren Aeuszerungen angeregt. Sie wirkten und wirken auf den Leser in aehnlicher Weise. So verändern sie.

Im Folgenden erlaeutere ich an dem Wort EXZESS, das was ich gerade behauptet habe.
Mit Exzess wird ueblicherweise Maszlosigkeit und Ausschweifung bezeichnet. Beide Bedeutungsvarianten sind negativ besetzt. Menschen, die maszlos und ausschweifend leben, werden moralisch abgewertet. Es sind Menschen, vor denen Eltern ihre Kinder warnen, weil man ihnen alles zutraut, blosz nichts Gutes. Doch  „Das Gute ist die Heuchelei.“**, meinte Bataille, weil niemand sagen kann, was ‚das Gute‘ ist. Menschen tun so, als ob sie ‚wissen‘, was gut ist. Menschen leben aber tatsaechlich ihren Beduerfnissen gemaesz. Theorien fungieren als Schutzschilde. Menschen finden es erfuellend, sich in der Erotik einem anderen auszuliefern, sich ihm hinzugeben, sich an ihn zu verschwenden: Das nennt Bataille Exzess bzw. exzessiv. Exzessiv laesst sich ferner so denken, wie Bataille denkt: „Ich denke wie ein Maedchen, das sein Kleid hochhebt.“ *** Excessiv bezeichnet auszerdem ein biologisches Prinzip. Der Mensch verausgabt sich bis zum Tode. Lebensaeuszerungen ueberschwemmen den Menschen, z. B. in der Sexualitaet, im Lachen, in der Angst, im Schrecken, in der Freude … etc. Dies entspricht wiederum einem kosmischen Prinzip: Die Sonne verausgabt sich gegenueber der Erde, ohne etwas dafuer zu erwarten: „Das authentische Boese kennt keine Selbstsucht.“**

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 *Rita Bischof: Teleskopagen, wahlweise: der literarische Surrealismus und das Bild. Frankfurt/Main 2001, S. 52.
** Bataille alias Louis Trente: Der Kleine. (Le Petit) 1943, postum 1963 erschienen, In: Das obszoene Werk. Hamburg 1977, S. 173.
** *Ders., Méthode de méditation, S. 200, hier zit. nach Boelderl, S.4. Zu dem Behaupteten vgl. den ganzen Abschnitt ebd. S.3f.

Jeder Mensch braucht sich und seine Beduerfnisse

Dies ist ein erster Bericht ueber mein gegenwaertiges Projekt Georges Bataille (1897-1962). Ich beziehe mich dabei im Moment auf das, was andere ueber Bataille geschrieben haben und auf wenige kurze Orginaltexte aus diesen Lektueren.

André Breton hat ihn verspottend einen Exkrementenphilosophen genannt. Breton war in der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts Fuehrer der surrealistischen Bewegung. Bataille war und fuehlte sich in den zwanziger Jahren dieser Bewegung zugehoerig. Breton betrachtete Bataille spaeter als Gegner der surrealistischen Bewegung. Ihm schwebte eine Bewegung vor, deren Charakter sich einerseits durch die Vielfalt neuartiger, kuenstlerischer Ausdrucksmittel entwickeln sollte, sich aber andererseits in grundsätzlichen Bereichen festzulegen hatte. Letzteres vor allem gab immer wieder Anlaesse fuer folgenreiche Auseinandersetzungen unter den Mitgliedern der surrealistischen Bewegung. Diese Anlaesse forderten auch den Widerspruch Batailles heraus und er vertrat seine eigenen Vorstellungen.

Batailles Schriften als Exkrementenphilosophie zu bezeichnen halte ich erst einmal fuer zutreffend, auch wenn ich die den Autor verspottende Namensgebung irgendwie anders auffasse. Bataille thematisierte in seinen Schriften das, was in der christlich-buergerlichen Kultur seiner Zeit ausgeschieden wurde. Letzteres nennt er auch das Heteronome. Dies laesst sich sowohl in seinen obszoenen Schriften, als auch in seiner Oekonomie nachlesen. Ich denke, es gibt keine Schrift von ihm, in denen er dieses Anliegen verlassen hat. Irgendwann hatte er entschieden, dass mit Worten niemand und nichts kommuniziert und veraendert werden kann. Er lehnte es auch deshalb ab, sich revolutionaer zu betaetigen, wie Breton es wollte. Es ging ihm dann darum, davon zu erzaehlen, was verfemt wird, d.h. verschwiegen und abgewertet wurde. Diese Pertubationen sorgten und sorgen heute noch fuer internationale, wissenschaftliche Aufmerksamkeit. In seiner Oekonomie schrieb er ueber seine Sicht auf Zusammenhaenge, wie Menschen in einer Gesellschaft oekonomisch handeln koennten, die Verfemtes, bzw. das ihr bislang Fremde (heteros) mit einbezieht. Statt den Menschen der Sache Produktion zu unterwerfen – so die fuer mich zentrale These seiner Allgemeinen Oekologie -, solle der Mensch im Interesse aller seinen Beduerfnissen gemaesz handeln. Dieser Maszlosigkeit kann der menschliche Bios im gemeinschaftlichen Handeln Orientierung geben und einen entsprechenden Gebrauch der Ressourcen ermoeglichen.

B. dramatisierte dieses Thema in der Schrift Der Begriff der Verausgabung (1933) – ich uebersetze den Titel lieber mit Die Idee des Verbrauchens. Er erlaeuterte diese Idee an einem bekannten Generationenkonflikt. Der Sohn geht seinem Vergnuegen nach. Der Vater greift korrigierend ein, obwohl er sich selber aehnliches unkritisch zubilligt. Er moechte, dass der Sohn sich nuetzlichen Dingen widmet. Damit solle – so Bataille – erreicht werden, dass die nachfolgende Generation sich in der homogenen Welt der Verantwortung bewegen lernt und ihre Individuen respektable, bzw. respektierte Mitglieder der Gesellschaft werden. Dieser Konflikt beruhe auf dem Sachverhalt, dass ausgeschieden wird, was nicht in die Idealitaet der Theorie passt und deshalb auch in der Praxis als verfemt gilt. Verbrauchen erhaelt daher die Bedeutung von Verschwendung.

Bataille holte die Umsetzung von Theorien in die niedere Materie, die nach seiner Auffassung nicht von den ontologischen Maschinen (wie Wesen, Substanz, Wahrheit) erfasst werden kann. Letztere gehen von fertigen bzw. richtigen Antworten aus. Sie sind nicht in der Lage umfassende, handlungsrelevante Rahmen zu erzeugen, die Menschen helfen, neue philosophische Sichten zu erfinden. Wer kann denn schon sagen, was nuetzlich ist? Wer kann sagen, was moralisch ist? Wer kann sagen, was der Mensch ist? Die traditionellen, klassischen Antworten erzeugten geschlossene Systeme, deren Folgen – vor allem im Hinblick auf eigene Erfahrungen, aber auch auf die Natur, auf Ressourcen, und soziale Fragen – das in ihnen nicht Vorkommende hervorrufen, und so verstoerend und aufruehrerisch wirken. Homogenes ruehrt so Heterogenes auf, Gleichbleibendes ist mit Flieszendem verbunden, Ethisches bestimmt sich gegen das Boese, Moralisches grenzt an Obszoenes, Ordnung wird durch Aufruhr heimgesucht … etc.

Der von Bataille als sein philosophischer Lehrer geschaetzte Léon Chestov schrieb in Abgrenzung zum Idealismus: „Uns bleibt einzig noch die Willkuer. Es ist gut moeglich, dass dieses Wort in seiner Aufrichtigkeit die Gunst der anspruchsvollen Geister erlangt, die an den Rechten des kritischen Verstandes zweifeln …“*

*Leo Chestov: La Philosophie de la tragedie. Paris 1926, S. 5. Zit. B. Michel Surya: Die Willkuer, après tout. Von der ‚Philosophie‘ Leo Chestovs zur ‚Philosophie‘ Georges Batailles. In: Andreas Hetzel & Peter Wiechens (Hg): Georges Bataille: Vorreden zur Ueberschreitung. Wuerzburg 1999, S.15.

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Bei Hetzel und Wiechens habe ich Anregungen zu meinem Text gefunden. Aber auch bei:

Wenn die Wahrheit unerfahrbar ist …

… dann macht es eigentlich keinen Sinn, recht zu haben oder ueberzeugen zu wollen. Aber muss es nicht so etwas wie Wahrheit, etwas Gleichbleibendes geben, etwas von dem aus Menschen verlaesslich handeln koennen? Dieses Gleichbleibende gibt es, auch wenn es sich anders zeigt, als die absolute Wahrheit, der Philosophen seit Jahrhunderten die Eigenschaften ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. zuschreiben. ‚Gleichbleibendes‘ entsteht naemlich im Zuge alltaeglicher Ereignisse und nicht durch Hoehenfluege metaphysischer Spekulationen.

Alltaeglichen Erlebnissen mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Naturphaenomenen folgen Eindruecke des ‚Gleichbleibenden‘.  Meinem Nachbarn Borowski, meiner Nachbarin Niebuhr, dem Nachbarskind Tanja, dem Hausmeister, dem Postboten … etc. begegne ich immer wieder. Ich erkenne sie wieder, wenn ich auf sie treffe. So erhaelt der Sachverhalt, dass sie vorhanden sind, den Charakter von ‚gleich bleibend‘. Ebenso ist es mit weiter entfernt lebenden Personen, denen ich moeglicherweise seltener begegne. Dass ich sie seltener treffe, beeintraechtigt moeglicherweise. die Staerke meines Eindrucks, die Vorstellung, dass sie gleich bleibend vorhanden sind, verhindert dies aber nicht. Aehnlich verhaelt es sich mit Tieren, Pflanzen und Naturphaenomenen.

Das sich wiederholende Erlebnis, dass ich ihnen immer wieder begegne und sie wieder erkenne, wird zum Anlass, davon auszugehen, dass sie vorhanden sind und zwar auch dann, wenn ich sie gerade nicht sehe. Ich gehe davon aus, dass ich jederzeit auf sie treffen kann. Ich sage dann, Borowski wohnt in Haus Nr. 7, er sieht so und so aus, ist Junggeselle, arbeitet als Busfahrer … etc. Wie fluechtig derart ‚gleich bleibendes‘ ist, kennt jeder aus der Erfahrung, dass die betreffende Person wegzieht, heiratet, arbeitslos wird, auswandert, stirbt … etc. Naturphaenomene wie Fluesse, Meere, Berge, Taeler, Sterne hinterlassen einen staerkeren Eindruck von ‚gleich bleibend‘ bei mir, weil sie u. a. ueber lange Zeitraeume quasi ‚gleich bleibend‘ erlebt werden. So kann ich beispielsweise jahrelang meine Ferien in den Bergen verbringen im Hinblick auf die Vorstellung, bestimmte Berge ‚gleich bleibend‘ wieder zu sehen. An dieser Vorstellung aendert auch nichts der Sachverhalt,  dass auch Berge, Fluesse, Meere, Taeler, Sterne … etc. sich veraendern, Katastrophen z. B. veraendern das Bild von Landschaften. Erdgeschichtlich ist ferner bekannt, dass Erdteile, klimatische Verhaeltnisse und Populationen von Lebewesen verschwinden und durch neue ersetzt werden. Fatalerweise wird den vorgestellten Sachverhalten das Woertchen ‚immer‘ zugeordnet. Obwohl dieses Woertchen auf Nachfrage nur in einem zeitlich begrenzten Rahmen zutreffend ist, bringt die Art des Redens die Sachen doch dem Charakter des ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. naeher. Derartige sprachliche Gewohnheiten unterstuetzen die menschliche Neigung davon auszugehen, dass etwas ‚gleich bleibend‘ vorhanden sei.

David Hume vermutete, dass nach einer Reihe bestimmter, aehnlicher Erlebnisse quasi wie von selber eine Vorstellung von ‚gleich bleibenden‘ Zusammenhaengen entstehe. Er nannte als Quelle dieser menschlichen Eigenart aus aehnlichen Ereignissen auf ‚gleich bleibendes‘ zu schliessen ‚habit‘ bzw. ‚custom‘ je nach dem, ob es sich dabei um etwas individuell oder gemeinschaftlich Erworbenes handelt. [vgl. dazu Humes ‚Abhandlung ueber die menschliche Natur‘ und dort v. a. den 3. Teil des ersten Bandes.] Neurobiologen unserer Zeit verweisen darauf, dass eine Reihe bestimmter, aehnlicher Erlebnisse die Vorraussetzung dafuer ist, um Menschen dazu zu veranlassen zu sagen, dass bestimmte Zusammenhaenge regelhaft und so notwendig sind. Diese Regelhaftigkeiten sind verursacht durch Aehnlichkeiten von Ereignissen und Erlebnissen. „Das ist ganz praktisch, denn die Regeln von gestern gibt es morgen auch noch.“, aeusserte dazu Manfred Spitzer. Er weist so darauf hin, dass ‚gleich bleibendes‘ unserer Erfahrung dem Menschen orientieren ermoeglicht. (Vgl. Manfred Spitzer: Wie lernt das Gehirn? , S. 6. Vortrag. Hier verlinkt.)

Vermutlich also tragen unsere neurophysiologische Plastizitaet und kulturell erworbene Seh-Gewohnheiten dazu bei, dass Menschen Vorstellungen von ‚gleich bleibend‘ entwickeln. Die meisten Menschen sind zu sehr mit ihrer Lebensgestaltung beschaeftigt, als dass sie merkten, in welchem Ausmass sie einzelne, sich aehnlich wiederholende Erlebnisse in ‚unveraenderlich‘, ‚gleich bleibend‘, ‚fortdauernd‘ … etc. ummuenzen und irgendwann ganz selbstverstaendlich behaupten, bestimmte Dinge seien ‚gleich bleibend‘. Es wird vergessen, dass dies nur begrenzt gueltig ist. Diese Neigung fuehrt dann – wenn es um religioese Wahrheiten geht – zu gefaehrlichen Einstellungen und Konsequenzen. In der abendlaendischen Philosophie entwickelte sich daraus der Mainstream ‚Metaphysik‘. Dieser war und ist mit Philosophen bevoelkert, die ‚gleich bleibendes‘ ins Auge fassten und ihr Philosophieren mit entsprechenden Spekulationen zu diesem Ziel hintreiben wollten. Dabei loesten sie ‚gleich bleibendes‘ aus dem Lebenszusammenhang heraus. Sie verabsolutierten eine Eigenschaft. Diese ‚Wahrheitsliebhaber‘ haben sich zwar in der Gegenwart mehrheitlich von der Metaphysik losgesagt. Sie verraten aber durch die verschiedensten Hinweise ihre implizite Neigung dafuer. Am deutlichsten zeigt sie sich, wenn Philosophen dafuer eintreten, dass sie ‚recht haben‘. Philosophische Gespraeche, die vom ‚argumentieren‘ (u. a. ‚beweisen‘) leben, sind dafuer charakteristisch.

Ich behaupte, dass Philosophen, die davon ausgehen, dass die Wahrheit keiner je kannte, noch kennt, noch je kennen wird, nicht recht haben moechten. Sie halten ‚recht haben‘ naemlich weder fuer moeglich, noch fuer nuetzlich. Diese Idee, dass ‚recht haben wollen‘ weder eine philosophische Tugend sei noch dem ‚philosophieren‘ nuetze, hoerte ich vor Jahren zum ersten Mal von dem Philosophen Rolf Reinhold. Er sagt ueber sich, dass ‚recht haben wollen‘ nicht seine Sache sei. In vielen Gespraechen mit ihm seit 2006 habe ich die positive Wirksamkeit seiner Maxime an mir selber erlebt. Reinholds ‚akzeptieren‘ statt ‚argumentieren‘ hat es mir ermoeglicht zu merken, dass mein ‚recht haben wollen‘ nicht nur meinem eigenen Philosophieren im Wege stand, sondern auch meinem Handeln.

Individuelles ueberschreiten II

Jan Kuhlbrodts Hinweis zu dem Artikel „individuelles ueberschreiten I“ auf Jean Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung eines Menschen hat mich zu interessanten Ergebnissen der Kognitionswissenschaften gefuehrt. Hier habe ich ein ‚paper‘ der Universitaet Wuerzburg verlinkt, das einen Ueberblick ueber kognitionspsychologische Experimente, deren Ergebnisse und die Theorien dazu gibt. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich fuer mich diesen Ueberblick auswerten konnte. Einerseits habe ich die verwendeten Bezeichnungen mit meinen Assoziationen verbinden muessen, bis sie fuer mich interpretierbar wurden. Andererseits sind die Experimente unvollstaendig beschrieben, so dass ich sie wohl nur teilweise kapiert habe. Ich habe die Luecken imaginativ geschlossen und mir so ein eigenes – vermutlich sehr irrtumsbehaftetes – Bild gemacht.
Dieses Bild – das wiederum ein ‚verdichten‘ von eigenen Assoziationen ist, die waehrend meines ‚verarbeiten‘ der Lektuere entstanden – nahm ich zum Anlass um meine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Doch zuerst zum oben erwaehnten ‚paper‘. Mein Fazit daraus: Jean Piagets Theorie, dass die ersten ‚kognitiven Strukturen‘ – was immer das auch sein mag – mit 9 Monaten entstehen, wurde nach unten hin korrigiert. Die experimentell erhobenen Forschungsergebnisse veranlassen inzwischen die Forscher zu Theorien, dass bereits im Mutterleib „Repraesentationen“ entstehen, die dem Neugeborenen ‚unterscheiden‘ zwischen Bekanntem und Unbekanntem ermoeglichen. Die Bezeichnung „Repraesentation“ scheint in diesem ‚paper‘ von den forschenden Autoren fuer eine Art „kognitive Struktur“ zu stehen.

Gleichgueltig um welche Variation der Fragestellung, des experimentellen Aufbaus und des Ergebnisses es sich handelt, die forschenden Autoren greifen im Diskurs ihrer Wissenschaft und zur Abgrenzung von anderen Wissenschaften auf die Bezeichnung „Repraesentation“ oder aehnliche Bezeichnungen zu. So verhielt sich Piaget, als er die Bezeichnung ‚Objektpermanenz‘ zur Bezeichnung fuer seine Annahme „kognitive Struktur“ benutzt.

Dabei wird unausgesprochen sowohl fuer ‚Repraesentation‘ wie fuer ‚Objektpermanenz‘ unterstellt, dass sie etwas bezeichnen, mit dem sich ueber wissenschaftliche Standards verhandeln liesze. Aus meiner Sicht – ‚individuelles ist unhintergehbar‘ (Rolf Reinhold) – handelt es sich dabei um vergleichbare Sichten der betreffenden Autoren, die sich diese unabhaengig und auszerhalb ihrer Experimente angeeignet haben. Ihre jeweils individuellen Sichten schaffen den individuellen Rahmen fuer Theorien, wie sie Kognitionswissenschaftlern akzeptabel erscheinen. Dies entspricht der in der Regel zugestimmten Behauptung, dass auch wissenschaftliche ‚Erkenntnis‘ subjektiv bzw. relativ sei, fuehrt aber selten – ich behaupte sogar nie – zu konsequentem ’nach-denken‘. Vergleichbar dem „Neun-Punkte-Problem“ verbleibt man unausgesprochen innerhalb der Grenzen bereits vorhandener Standards und beschraenkt sich auf das, was innerhalb dieser moeglich ist. Dies fuehrt im vorliegenden Falle – wie in allen anderen aehnlich gelagerten Faellen – zu einer Festschreibung von Theorien und gewohnten Sichten. Das rahmensprengende Potential von Experimenten wird uebersehen.

Physistische Philosophinnen gehen davon aus, dass konsequentes ’nach-denken‘ und dabei ‚ausgehen‘ von dem, was sensorierbar ist, andere Schlussfolgerungen ermoeglicht, die rahmensprengend wirken koennen.
Die im ‚paper‘ angefuehrten Experimente legen nicht notwendigerweise nahe, dass geistige Strukturen der Motor fuer die Verhaltensenderungen eines neugeborenen Menschen sind. Dies ist – wie schon oben erwaehnt – die Interpretation von Wissenschaftlern, die davon ausgehen, dass ‚geistiges‘ etwas sei, das notwendigerweise zum Menschen gehoere. Im Falle „kognitive Struktur“ wird ferner – ebenfalls unausgesprochen – unterstellt, dass ‚geistiges‘ Grenzen transzendieren koenne und so in eine Art „geistige Schnittmenge“ zwischen Individuen münde. Diese Auffassung kennzeichnet u. a. den transzendentalphilosophischen wie den sprachphilosophischen Diskurs in der Philosophie. In Erziehungs- und Lerntheorien sowie in Unterrichtsdidaktiken wird damit die Überlegenheit des Lehrenden über den Lernenden behauptet. Ich halte dies fuer eine mythische Denkfigur, die aber von denen ueblicherweise mit verwendet wird, die diesem Mythos verbunden sind. Ich kann keinen konkreten Anhaltspunkt dafuer finden, dass ich denkend und handelnd meine individuelle Welt verlassen kann.

Ich schliesze aus denen im ‚paper‘ erwaehnten Experimenten, dass die jeweils individuelle neurophysiologische Ausstattung der Motor von ‚entwickeln‘ ist, die vielfaeltig angeregt adaequates ‚handeln‘ und ’nach-denken‘ ermoeglicht. Die Strukturen, die dabei entstehen, sind neurobiologischer Art. Sie werden durch ‚benutzen‘ funktionstuechtiger. Es sind meine Strukturen. Ich kenne keinen Fall – auszer ich haette einen siamesischen Zwilling – in dem ich, mit neurobiologischen Strukturen eines anderen verbunden sein koennte. Andere schließen von neurobiologischen Strukturen auf kognitve. Das ist mir zu weit gehend.

Eventuell funktioniert auch das, um den traditionellen Rahmen verlassen zu können: Sowohl ‚reden‘ wie ‚denken‘ ueber den Menschen sind vollgemuellt mit Jahrhunderte alten Bedeutungen. Es koennte ‚weiterentwickeln‘ befoerdern, wenn ‚reden‘ und ‚denken‘ – z. B. nach einer Art Simplify-Methode – ausgemistet wuerden.

Individuelles ueberschreiten I



Kann man die Dinge auch mit den Augen anderer sehen?

Menschen gehen davon aus. Menschen meinen z.B., sich in andere einfuehlen zu koennen: „Ich weisz, was in dir vorgeht.“ Muetter halten sich zu Gute, ihre Kinder zu kennen. Lehrer glauben zu wissen, wie jeder ihrer Schueler am effektivsten lernen. Liebende gehen davon aus, ein Herz und eine Seele zu sein. Auch Wissenschaftler gehen davon aus, den Beweis dafuer erbracht zu haben, dass ein Individuum wissen kann, was ein anderer empfindet: Sie haben die Spiegelneuronen entdeckt.

Menschen, die davon nicht ausgehen, gelten zumindest als soziale Grobiane, werden als gefuehlskalt, … etc. bezeichnet. Manche gehen so weit zu behaupten, dass diesen Menschen eine wichtige menschliche Faehigkeit fehle. Derartige Selbstverstaendlichkeiten und derart Weitreichendes macht es aus meiner Sicht noetig, dem Empathischen, d.h. dem Einfuehlsamen auf den Mund zu schauen: Wovon ist hier die Rede?

Im Wesentlichen duerfte es um Kommunikation gehen.

Ich gehe davon aus, dass Kommunikation mit der Benutzung von Zeichen (Gesten, Mimik, Woerter, Stimmfaerbung, … etc.) zu tun hat, die in Menschen etwas ausloesen. Bereits im Uterus sind Menschen Zeichen der Umgebung ausgesetzt. Worauf diese Zeichen verweisen, lernt der Mensch ueberwiegend extrauterin.

Mit ungefaehr einem Jahr beginnen Menschen Woertern etwas Bestimmtes zuzuordnen. Sie fangen an zu sprechen. Mit durchschnittlich 5/6 Jahren ist das Bestimmte, auf das ein Wort hinweist, im Bereich des Konkreten so weit von Menschen erforscht, dass andere mit ihnen reden koennen. Andere Zeichen als Woerter werden nachrangig. Bis dahin gibt es viele Irrtuemer, die dem Herausfinden des Bezeichneten dienen. Auf diesem Weg begegnen Menschen auch Zeichen, bei denen es nicht gelingt herauszufinden, was damit bezeichnet wird. Es sind Abstraktionen, Metaphorisches. Deren Erforschen dauert länger.

Was steht wofür?

Grundlegende Erfahrung aus diesen ersten Lebensjahren ist also: Wenn ein Menschen mit anderen reden moechte, muss er fuer sich selber herausfinden, was es mit den Zeichen auf sich hat, die die anderen benutzen. Das Reden ueber Dinge orientiert sich dabei am Konkreten, das ein Mensch kennt: Katze, Tisch, gehen, lachen, blau, gruen … etc. In diesem Rahmen gibt es selten Unklarheiten zwischen Menschen; es sei denn es liegen sensorische Beeintraechtigungen vor (z.B. Seh- oder Hoerdefizite).

Reden ueber Dinge, die man nicht kennt, reden ueber Abstrakta, Metaphorisches oder ueber das, was in anderen Menschen vor sich geht, wird unklar, weil das damit Bezeichnete nicht gemeinsam betrachtet werden  kann. Um zu erlaeutern, was ich meine, wenn ich das Wort ‚Liebe‘ verwende, muss ich mehr Woerter benutzen. Die Kommunikation wird unuebersichtlich. Menschen haben eventuell deshalb den Gebrauch des Wortes „verstehen“ erfunden. „Aha, ich verstehe, was du meinst!“ oder „Verstehst du mich?“ „Ich verstehe!“ beendet die Kommunikation ueber ein bestimmtes Thema. Mir fiel schon oft auf: Je besser Menschen sich verstehen, desto weniger scheinen  sie sich zu sagen haben. Aber dies nur nebenbei.

Was folgt daraus fuer die Eingangsfrage? 

Erst einmal nicht viel.
1. Von Geburt an ist der Mensch damit beschaeftigt zu kommunizieren und dazu muss er fuer sich immer wieder herauszufinden, worauf Zeichen hinweisen.
2. Der Mensch orientiert sich dabei an konkreten Dingen.
3. In der Kommunikation ergibt sich fuer ihn, ob er Zeichen korrekt entschluesselt hat.

Die Untersuchung wird fortgesetzt.

Ueber den Mythos des Geistigen



Meine Ablehnung von Erkenntnistheorien bezieht sich u.a. auf deren Setzungen wie z.B. ‚Geist‘, ‚Vernunft‘, ‚Verstand‘, ‚wahr‘, ‚falsch‘, Wissen, … etc., die aber in erkenntnistheoretischen Loesungen nicht als Setzungen ausgewiesen wurden, sondern im Gebrauch der Worte den Charakter des Faktischen annahmen und so gewohnheitsmaeßig die Selbstverstaendlichkeit des Geistigen und aller damit verbundenen geistigen Faehigkeiten kreiert haben dürften. Jeder der diese Ueberlegung nicht teilt, wird sie argumentativ mehr oder weniger geschickt und eventuell mit dem Hinweis auf wissenschaftliche Autoritaeten verwerfen.

Ohne auf denkbare Argumente einzugehen, ist weiter von Bedeutung, dass die im Diskurs zwischen verschiedenen Erkenntnistheorien zum Faktum erhobene Behauptung ‚der Geist ist etwas‘ verbunden wurde mit der abendlaendischen Behauptung, der menschliche Geist sei besser als der menschliche Koerper. Eine Behauptung die u.a. bei Augustin Thagaste zu finden ist, der seinem „Prinzip der Innerlichkeit“ folgend meinte: „Melius quod interius.“ (Bekenntnisse 10.6.9 )
Diese Idee, dass ‚innere‘, ‚geistige‘ Erkenntnis hoeherwertiger sei als Schlussfolgerungen aus ’sensorieren‘, zieht sich als unbemerkte Behauptung selbstverstaendlich durch jede Erkenntnistheorie. Sie foerdert die Auffassung, dass grundsaetzlich jede Theorie der Praxis überlegen sei. Es koennte sein, dass neuzeitliche Erkenntnistheoriker als Soehne und Toechter der ihnen auferlegten metaphysischen Schulung im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams und gegen die aufklaererische Forderung ’sapere aude‘ die Pflicht erfuellen, die von den Altvorderen aufgestellten Behauptungen nachzuweisen, um sie weiterhin zu benutzen und um darueber hinauszugehen: Erkenntnistheoretiker naemlich behaupten, dass geistige d.h. apriorische Erkenntnisse jeweils Grundlage unseres ‚handeln‘ seien. Eine Behauptung, die noch heute m. E. unnoetige Graeben zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Sichtweisen aufreißt. Die als Loesung angesehene Behauptung duerfte in Zeiten autoritaetsorientierten Philosophierens vermutlich als funktional betrachtet werden koennen, aber in Zeiten des Beduerfnisses nach zunehmender Eigenstaendigkeit und nach Authentizitaet als verzichtbare Beschraenkung erlebt werden.

Hume hatte dazu bemerkt, dass der Verzicht auf die unreflektierte Uebernahme von Behauptungen frueherer Autoritaeten, alle deren Behauptungen fragwuerdig, wenn nicht hinfaellig macht. Es bleibt ohne Autoritaet nur noch die jeweils eigene Sicht auf die Dinge. Statt von Behauptungen anderer auszugehen, kann ein Mensch sich dann bloß auf das beziehen, was ein Mensch jeweils kennen kann. Die Philosophiegeschichte dokumentiert, dass es in der Philosophie bisher selten vorgekommen ist, dass eigenstaendig philosophiert wurde, wie es die antiken Philosophen gefordert hatten. Im Gegenteil: Es hat sich im Bemuehen um Gewissheit im philosophischen Denken der westlichen Welt etwas verfestigt, das als Denkverbot funktioniert: „Du sollst den Geist, die Vernunft, … etc. nicht in Frage stellen!“ Macht jemand sich daran zu schaffen, steht er in Gefahr philosophisch ignoriert zu werden. Dekonstruktion ruft Empoerung hervor. Das duerfte sich nachteilig fuer eine philosophische Weiterentwicklung auswirken koennen.

Die hier skizzierten, vermuteten Zusammenhaenge verdienen aus meiner Sicht nicht den Namen ‚Dekonstruktion‘: dazu muessten sehr viel weiter fuehrende Ueberlegungen angestellt werden. Sie taugen m. E. aber dazu, um begruendete Fragen zu stellen und ein Gefuehl des Unbehagens hervorzurufen.